Dunkelheit legte sich um ihn und trübte sein Sichtfeld. Mitten in dieser Dunkelheit stieg ein grausames Bild in ihm auf: Er sah die abgekauten Gliedmaßen eines Tieres vor sich, das sich in einer Falle wand. Erneut schob sich Scott vor und zurück - nicht nur, weil er sich vom Seegrund lösen wollte, sondern auch, weil er dieses Bild loswerden wollte. Er lehnte sich gegen die Felsbrocken, benutzte die Ferse als Keil und drückte sich mit Macht dagegen. Aber der Fels war zu glatt, sein Fuß rutschte abermals ab, wobei er sich den Ballen stieß. Er versuchte es noch einmal, ohne den geringsten Erfolg.
Vor Angst wie gelähmt, starr vor Schreck, hing er regungslos dort unten im Wasser. Und wieder bahnte sich Luft aus seinen Lungen den Weg nach draußen, stieg in kleinen Blasen an die Oberfläche. Vergeudete Luft.
Das kann doch einfach nicht wahr sein!, schrie seine Seele in die grünschwarze Stille hinein. Unmöglich, dass ich hier unten im See festklemme, das ist doch heller Wahnsinn. Nein! NEIN! Komm schon, Scott, zieh! Zieh!! ZIEH!!
Plötzlich war es so, als breche ein innerer Damm, als durchströme ihn heiße, unbändige Wut. Scott nahm den Kampf auf, tanzte wie wild herum, fuchtelte mit den Armen, als seien sie Windräder, grub seinen Fuß fest in den Grund des Sees, der ihn dort unten in seinen Klauen hielt. Und erzeugte durch seinen verrückten Tanz nichts als Schlammwirbel, die ihm jede Sicht nahmen, und Atemnot, die ihm die Brust heftig zusammenpresste. Jeder Muskel verlangte, dass er den Mund aufriss und seine Lungen Sauerstoff einatmeten! Benommen sah er zur Oberfläche hinauf, zum Licht, zur Luft ... so verdammt nah! Und er kämpfte weiter, so dass er den Rest seiner Kräfte und seiner kostbaren Sauerstoffreserve verbrauchte.
Egal, was er tat, es war sinnlos. Er saß fest wie ein Fisch im Netz. Durch seine wilden Verrenkungen hatten sich die Algen nur noch fester um ihn geschlungen.
Ein weiterer Luftstoß entwich seiner Brust, die sich wie ein Schraubstock immer weiter verengte.
Warum kommt denn niemand? Bob! Krista! Bitte! BITTE!
Scott Bowman dachte an seinen Tod. Nur knapp vier Meter unter seinem eigenen Anlegesteg würde er gleich ertrinken.
Plötzlich schnappte es in seinem Kopf: Er tauchte in Leere ein, in reine, ursprüngliche Leere, jenseits aller schlichten Angstvorstellungen. Er würde sich dem Drang nach Luft nicht länger widersetzen. Luft war jetzt sein Ein und Alles, das Zentrum seines schwindenden Universums, und Scotts Körper gehorchte diesem alles übertönenden Befehl. Hilflos öffnete er den Mund und atmete tief ein. Und das Wasser bahnte sich den Weg durch Zugänge, die von der Natur dafür nicht vorgesehen waren.
Als die Erstickungswelle wie Feuer durch sein Hirn toste, quollen seine Augen hervor. Seine Brust wehrte sich wütend und versuchte, das Wasser aus den Lungen zu vertreiben. Von weit her hörte er das mechanische Tuckern von Andersons Außenbordmotor - vielleicht waren es aber auch die rasselnden Knochen des Sensenmanns. Scott war es egal, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war nur noch ein verzweifeltes Tier, das sich jetzt mit solcher Wildheit aufbäumte, dass sich die Sehnen aus den Knochen lösten.
Aber sein Bein ließ sich nicht bewegen.
Sein Gehirn schwoll an, unzählige Bilder strömten in grellen Farben auf ihn ein, Wasser trat an die Stelle der Luft.
Scott war dabei zu ertrinken.
Durch Nebelschleier, die sich dichter und dichter um ihn legten, sah er den Anker, der wie irgendein bizarres Seeungeheuer mit silbernen Schuppen und speerformigen Flossen durchs Wasser schnitt. Nahe einer seltsam verlockenden, tödlichen Euphorie, unfähig, noch irgendetwas zu erfassen, sah Scott mit dumpfer Ehrfurcht zu, wie das Ding näher und näher rückte.
Und dann bemerkte er das gelbe Nylontau.
Direkt über ihm war Bob Andersons Boot. Und es zog einen Anker hinter sich her.
Getrieben von letzten Überlebensinstinkten, richtete Scott den Blick auf das Tau und stürzte sich darauf. Als er es in den Händen hielt und bemerkte, wie es sich unter seinem Griff straffte, stemmte er den freien Fuß gegen den Felsbrocken, der den anderen Fuß festhielt, und drückte ein letztes Mal dagegen.
Oben an der Wasseroberfläche gab Anderson mit dem Außenbordmotor Vollgas.
Und Scotts Bein löste sich aus der Falle.
6
Nachdem Scott das Seil losgelassen hatte, strampelte er blindlings nach oben, hoch zum Licht und der rettenden Luft. Direkt unter dem Anlegesteg schnellte er an die Oberfläche, stieß mit dem Kopf gegen eines der Fässer und warf sein Gesicht dem erlösenden Sauerstoff im knappen Luftraum entgegen. Mit den Fingern griff er zwischen die Holzlatten des Stegs und krallte sich daran wie an Landehaken fest. Hustend und spuckend riss er den Mund auf und sog gierig die Luft ein ... die köstliche Luft, die lebendige Luft. Die Stimme seiner Tochter klang hoch, hektisch und überschlug sich vor Angst, während sie seinen Namen schrie, doch sie erfüllte ihn mit einem seltsamen Triumphgefühl. Dass er sie hörte, hieß: Er war am Leben! Darauf hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt.
Jetzt kniete Kath auf dem Steg nieder, spähte durch die Bretter hindurch und griff nach Scotts Fingern. Dann war auch Krista da, deren Stimme Angst und Hysterie verriet und wie das Echo ihrer Tochter klang.
»Scott! Oh, allmächtiger Gott! Alles in Ordnung? Oh, du Mistkerl, du hast mich zu Tode erschreckt! Kommst du da allein wieder raus? Oh, Gott... Oh, Gott!«
Kurz darauf waren Bob Anderson und Frank Mills über ihm, und Scott konnte aus seiner Froschperspektive erkennen, wie sie alle ihn durch die Risse im Holz anstarrten. In seiner Kehle stieg ein irres Lachen auf und erzeugte nichts als Husten. Mehrmals spuckte er einen ganzen Mund voll Seewasser aus, blickte mit brennenden Augen durch die Stegbretter nach oben ... und atmete.
Andersons dröhnender Befehl beendete mit einem Schlag das panische Hin und Her weiblicher Stimmen: »Jetzt reicht's! Ihm fehlt nichts. Wir müssen ihn nur da unten rausholen.« »Oh, Scott... ich dachte, du wärst... ich ...« »Fred, bring die Dame zurück ins Haus ...« »Nein«, sagte Krista und zerrte an Andersons Ärmel. »Mir geht's gut. Ich möchte helfen.«
Bob kniete sich mit einem Bein nieder und blickte Scott mit seinen ruhigen braunen Augen an. »Meinen Sie, dass Sie Ihren Hintern irgendwie da unten rauskriegen, Scotty?«
Beim Versuch zu antworten, brachte Scott nichts als eine heftige Hustenattacke hervor, die wie der Schrei eines Tieres klang. »Ich ... ich kann mich nicht bewegen ...«
Er zitterte hilflos. Seine Muskeln waren von den immensen Strapazen stark angegriffen. Arme, Beine und der Bauch wurden von höllischen Krämpfen geschüttelt. Er klammerte sich so heftig an den Steg, als seien seine Fingerkuppen dort angenagelt. Noch konnte er sich nicht vorstellen, dass er je wieder loslassen würde.
Und natürlich spürte er die Angst, sie war immer noch da. Diese Todesangst, die so frisch war wie eine blutende Wunde. Wenn er unter dem Steg herauskommen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder zu tauchen - nochmals da hinunter, hinab in die Finsternis des Wassers. Momentan war er dazu einfach nicht in der Lage.
»Nein ...«, keuchte er, wahrend er abermals nach Luft schnappte. »Ich bleib noch eine Weile hier.«
Krista, sie trug immer noch ihren hautengen Aerobic-Anzug, sprang kurz entschlossen in den See. Unter dem Steg tauchte sie wieder auf, schwamm zu ihrem Mann hinüber und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm. Seine Muskeln waren steif und hart.
»Komm schon, Liebling. Lass uns versuchen, dich hier rauszuholen.« Wenn sie zum äußeren Rand des Stegs gelangen wollten, mussten sie allerdings erst einmal vier stützende Querbalken hinter sich bringen, die zum Teil unter Wasser lagen. »Wir nehmen uns einen Abschnitt nach dem anderen vor.«