»Mir geht's gut«, sagte Scott »Hab mir selbst einen Schrecken eingejagt. Das ist alles.« Er rollte sich auf die Seite und versuchte, sich aufzurichten.
Erst jetzt wurde ihm klar, welchen Schaden sein kurzer Kampf unter Wasser angerichtet hatte. Seine Gliedmaßen fühlten sich an, als habe jemand, während er sich träge seinen Träumen hingegeben hatte, die Knochen mit flüssigem, von Kies durchsetztem Zement ausgegossen, der mittlerweile gehärtet war. Alle Muskeln muckten bei der kleinsten Bewegung vor höllischem Schmerz hörbar auf. Als er sich nach vorn lehnte, um sich selbst irgendwie aus dem Bett zu schieben, zogen sich seine Bauchmuskeln zu einem unglaublichen Krampf zusammen. Um die Schmerzen zu lindern, musste er Krista bitten, seine Beine durchzudrucken, damit er sie ausstrecken konnte. Mit ihrer Hilfe setzte er sich schließlich auf die Bettkante, wo er wütend mit einer persönlichen Bestandsaufnahme begann.
Wie sich herausstellte, waren die steifen, empfindlichen Muskeln noch das geringste Problem. Der Schmerz hatte sich seinen Weg direkt in die Knochen gebahnt. Schon bei der geringsten Bewegung fühlte er sich so, als habe irgendjemand Metallfüllungen mit scharfen, gezackten Kanten in jedes seiner Gelenke implantiert. Seine Wirbelsäule glich einer Turnierlanze, die man ihm vom Kopf bis zum Hintern durch den Körper getrieben hatte. Trotz Kristas perfektem Verband pochte der Schmerz in seinem Bein. Die Hüfte war eine einzige empfindliche Schwellung: Bei Scotts letztem Befreiungsversuch waren die Gelenkkapseln und einige der umliegenden Muskelfasern zerrissen - eine Verletzung, die sich noch lange bei jedem Wetterwechsel böse bemerkbar machen würde, wie er wusste. Außerdem zirkulierte das Blut noch nicht wieder in den Gliedern: Sie waren so kalt wie die eines Leichnams. Seine Finger schmerzten. Seine Zehen schmerzten. Seine Zähne schmerzten ... Sogar seine Kopfhaut schmerzte.
Er stöhnte auf. Und als Krista ihn bemutterte, ließ er sie gewähren.
»Oh, du mein armer Liebling«, gurrte sie. »Das muss ja furchtbar für dich gewesen sein.« Sie streichelte seine stoppelige Wange. »Ich wusste erst gar nicht, was ich denken sollte, als ich Kath da unten so schrecklich schreien hörte. Ich dachte, sie hätte sich verletzt oder so was. Ihre Freundin Lita ist wie ein erschrockenes Karnickel davongerannt.« Als sie ihn noch fester an sich drückte, zuckte er zusammen. »Dem Himmel sei Dank, dass du es überstanden hast. Möchtest du irgendwas? Etwas zu essen oder trinken? Wie geht's deinem Bäuchlein?«
Scott lächelte und entdeckte dabei, dass auch diese Muskeln schmerzten. Er merkte, dass Krista in einem leichten Schockzustand war. Wahrscheinlich würde sie völlig ausrasten, sobald auch nur die Tür hinter ihrem Rücken zuknallte.
»Mein Hals tut vom Husten weh«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass ich jetzt schon richtig schlucken kann. Aber ich würde ganz gern nach oben gehen.«
Krista half ihm auf die Beine. Für einen Moment wurde ihm etwas schwindelig, und das Zimmer schien sich um ihn herum zu drehen, aber das gab sich bald. Während er mit den Treppenstufen kämpfte und sich dabei fest auf Krista sowie das Geländer auf der anderen Seite stützte, wurde ihm seine eigene Schwäche bewusst - und dabei musste er plötzlich an den Zeichner und dessen verschrumpelten Körper denken.
Was ihn auf die Minolta brachte.
Am oberen Ende der Stufen angekommen - von hier aus war ein Teil des Wohnzimmers einzusehen -, entdeckte Scott seine Tochter. Kath hockte auf dem Fußboden und schaute sich die Bugs-Bunny-Show im Fernsehen an. Er sah auch, dass ihr Blick nicht auf die Mattscheibe, sondern auf ihre Hände gerichtet war, die starr und eng ineinander verschlungen in ihrem Schoß lagen.
Als Kath ihre Eltern kommen hörte, fuhr sie erschrocken herum. Während die beiden ins Zimmer humpelten, schenkte sie ihnen ein müdes Lächeln.
Mit professionellem Blick erkannte Scott sofort, dass das Verhalten seiner Tochter Ausdruck eines schweren emotionalen Traumas war. Während der drei oder vier Minuten, in denen Scott um sein Leben kämpfte, hatte Kath erstmals in ihrem Leben wirkliche Angst empfunden, nackte Angst. Und wie ein Junkie, der sich gerade seinen Schuss gesetzt hat, musste sie erst einmal wieder davon herunterkommen. Obwohl Kaths Reaktion ihm Sorgen bereitete, glaubte er zu wissen, was sie durchmachte. Die pure Angst hatte auch ihn dort unten, auf dem Grunde des Sees, an den Rand des Wahnsinns getrieben.
»Ich werd' mich ein Weilchen aufs Sofa legen«, sagte er.
»Möchte ein bisschen bei meinem Mädchen bleiben.« Kath half ihrer Mutter, Scott auf die Couch zu betten.
»Bist du sicher, dass ich dir nicht doch irgendetwas holen soll?«, fragte Krista, nachdem Scott ausgestreckt und zugedeckt auf dem Sofa lag.
»Mir geht's gut. Wirklich.« Gleich darauf fragte er - beiläufig, wie er hoffte, was ihm allerdings schlecht gelang - die beiden: »Hat jemand meine Kamera gefunden?«
Krista schüttelte den Kopf: »Welche Kamera?«
»Hab ich ganz vergessen«, murmelte Kath, deren Miene ein schlechtes Gewissen verriet und gleichzeitig unglücklich wirkte.
»Was hast du überhaupt da unten getrieben?«, fragte Krista.
Scott wollte den wirklichen Grund nicht verraten, denn angesichts dessen, was geschehen war, schien er von ziemlich weit hergeholt.
»Nichts Besonderes. Ich hatte nur plötzlich die Idee, die Minolta auszuprobieren. Dort unten, tief in den Algen, tummelten sich ein paar Sonnenbarsche. Ich wollte sie gern fotografieren. Würdest du mal nachsehen? Nach der Kamera, meine ich?«
»Na gut, Monsieur Cousteau«, sagte Krista. »Alles, was dein Herz begehrt« Sie küsste ihn sanft auf die Stirn. »Ich bin nur froh, dass es dir gut geht« Mit breitem Lächeln ließ sie ihn mit seiner Tochter allein.
Scott klopfte auf den Rand der Couch. »Komm und setz dich zu mir«, sagte er liebevoll. Kath kam seinem Wunsch zwar nach, reagierte jedoch eher mechanisch und wie benommen. Er zog sie nah zu sich heran und küsste sie auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich fiebrig an.
»Mir fehlt nichts, Kleines«, sagte er. Kaths Unterlippe zitterte, als sie versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken. »Mir ist nichts passiert Und Bob hatte Recht, weißt du. Ich muss dir dafür danken.« Das Zittern verwandelte sich in den Anflug eines Lächelns. Aber eine einsame Träne trat ihr doch aus den Augen, rollte die Wange hinunter und fiel auf Scotts Handrücken.
»Geht's dir wirklich gut, Daddy?«, fragte Kath, während ihre Augen in Tränen schwammen.
»So gut wie eh und je.«
Kath umarmte ihn so abrupt und heftig, dass es ihm wehtat, und ließ den Tränen mit heftigem Schluchzen freien Lauf. Immer noch zitternd, tat Scott sein Bestes, um sie zu trösten.
Krista hatte sich eine von Scotts Windjacken wie ein Cape um die Schultern gelegt und ging barfuß den Hügel zum See hinunter, wobei sie darauf achtete, auf dem nassen Gras nicht auszurutschen. Der Himmel, der inzwischen so weit aufgeklart war, dass die Sonne hier und da durch die Wolkendecke blinzelte, verfinsterte sich schon wieder, und es lag etwas Unruhiges in der Luft. Als Krista den Anlegesteg betrat, hörte sie das Platschen und Gluckern des Wassers unter ihren Füßen und zog die Jacke enger um sich. Dieser verrückte Morgen hatte ihr Denkvermögen vorübergehend lahm gelegt, so dass sie eine Weile brauchte, bis ihr wieder einfiel, wozu sie eigentlich hergekommen war.
Die Kamera.
Während sie auf der Suche nach der Minolta ihre Runden über den Steg machte, tauchten in ihrem Inneren plötzlich ungelöste Fragen auf. Sonnenbarsche?, wiederholte eine Stimme in ihrem Kopf. Warum sollte er hier nach Sonnenbarschen tauchen? Aber sie fand keine Antwort darauf, sondern spürte nur unendliche Erleichterung, dass er noch lebte.
Krista hatte fast schon aufgegeben, als sie die Kamera plötzlich doch noch entdeckte. Sie hatte sich in den zum Teil unter Wasser liegenden Asten einer Trauerweide verfangen, die am Rande ihres Grundstücks stand. Wie die Fragen in ihrem Kopf tauchte der Fotoapparat unvermittelt auf, um gleich wieder zu versinken. Sie musste bis zu den Knien ins Wasser waten, um ihn herauszuholen. Ihre Jeans wurde dabei ganz nass, aber das machte ihr nichts aus. Sie hob die Kamera aus dem Wasser und verstaute sie sofort in irgendeiner Tasche, da es sie nervte, wie das flache, gelbe Gehäuse im Zwielicht des heraufziehenden Gewitters funkelte.