Kaths Gesicht hatte sich wieder vom Körper gelöst. Jetzt verschwamm es vor seinen Augen, verzerrte sich, fiel auseinander, verspritzte Blut...
Aber es konnte ihm nichts mehr anhaben. Nein. Denn jetzt legte sich der Treibsand auch über seine Augen. Und er ertrank darin, sank tiefer und tiefer und tiefer ...
Scotts Schrei erschreckte Krista so, dass sie selbst aufschrie und davon aufwachte. Als sie ihre Augen aufschlug, stellte sie fest, dass sich Scott bei dem Versuch, sich im Bett hinzuknien, in die Laken verwickelt hatte.
»Scott«, rief sie und griff nach seinem völlig erstarrten Arm. »Scott, was ist los?«
Schweißnass und wie eine Maschine keuchend, öffnete Scott die Augen. Als er die vom Wind aufgebauschten Gardinen, die vertrauten Umrisse des Schlafzimmermobiliars und Krista entdeckte, ließ er sich gegen die Kopfstütze fallen.
Krista zog ihn hinunter, küsste ihn und kuschelte sich in Löffelstellung eng an seinen Rücken. Leise und beruhigend sprach sie auf ihn ein, während draußen der Wind ums Fenster strich.
Ehe er wieder einschlief, bat Scott sie noch, das Fenster zu schließen.
Sie tat es, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Als sie zurück ins Bett kam, fiel Scott auf, dass die hauchdünnen Gardinen am Fenster jetzt ganz leblos herunterhingen.
Nachdem das Fenster geschlossen war, fühlte er sich wohler. Jetzt konnte er die Wellen nicht mehr hören.
Er sank in tiefen und diesmal traumlosen Schlaf.
Als die Morgendämmerung ihr bleiches Licht über den Himmel ergoss, eilte Krista ins Zimmer ihrer Tochter, um sie zu trösten. Auch Kath hatte schlimme Träume gehabt.
Aber Scott merkte nicht einmal, dass Krista nicht mehr bei ihm war.
8
Nachdem sie Kath beruhigt hatte, ging Krista wieder ins Bett. Eine Stunde lang döste sie und warf sich unruhig hin und her, dann stand sie auf. Obwohl sie so schlecht geschlafen hatte, konnte sie es im Bett nicht länger aushalten.
Im trüben Licht des anbrechenden Morgens blieb sie nackt im Zimmer stehen und sah lange auf ihren Mann herunter. Er lag auf der Seite, hatte die Knie angezogen, einen Arm locker um sein Kopfkissen geschlungen und atmete tief. Seine Mundwinkel zuckten wie die eines scheuenden Pferdes. Krista fiel auf, dass seine Augen unter den Lidern unruhig hin und her huschten. Sie fragte sich, was er wohl träume.
Auf einen Schlag wurde ihr klar, dass sie heute Morgen beim Erwachen das Bett auch hätte leer finden können - und jeden Morgen für den Rest ihres Lebens. Noch ein, zwei Minuten dort unten auf dem Seegrund, und sie hätten mit dem Schleppnetz nach dem Leichnam ihres Mannes gesucht, anstatt ihn lebendig an die Oberfläche zu zerren, wo er heftig nach Luft geschnappt und um sich geschlagen hatte.
Bei dem Gedanken bekam Krista eine Gänsehaut, all ihre Härchen stellten sich auf. Sie griff nach ihrem Morgenmantel und streifte ihn über.
Plötzlich wollte sie ihn wecken, plötzlich beunruhigte es sie, dass er so still dalag. Ihre Sorge um ihn war so stark, beängstigend und irrational, dass sie selbst merkte, wie unsinnig sie sich verhielt. Dennoch konnte sie dem Drang, ihn aufzuwecken, in die Arme zu nehmen und seine Stimme zu hören, kaum widerstehen.
Während sie sich vorbeugte, um ihn zu wecken, warf sie einen Blick auf die Digitaluhr am Bett, zögerte kurz und beschloss dann, ihn schlafen zu lassen. Schließlich war es erst Viertel nach sechs.
Als spüre er Kristas innere Unruhe in den tiefen Traumgefilden seines Schlafes, seufzte Scott und drehte sich mitsamt dem Kopfkissen auf den Rücken. Immer noch zitterig, aber erleichtert, überließ Krista ihn dem heilsamen Schlaf.
Sie war nicht überrascht, als sie Kaths Daunendecke zurückgeschlagen und das Bett leer fand. Sie trat ins Zimmer, strich über die Kuhle, die Kaths Körper im Bett hinterlassen hatte, und stellte fest, dass sie bereits ausgekühlt war. Besorgt hastete sie ins Erdgeschoss und suchte ein Zimmer nach dem anderen nach Kath ab.
Aber nirgendwo waren Spuren von ihr zu finden, sie hatte nicht einmal die übliche Schüssel mit Schokoladenflocken gegessen. Langsam, aber sicher, bekam Krista regelrecht Angst. Sie trat auf die Terrasse hinaus und blickte durch den feinen Morgennebel zum See.
Einsam und allein saß Kath draußen auf dem Landesteg; sie wirkte wie irgendeine liebreizende Gestalt auf einem Ölgemälde.
Krista wickelte sich fester in den Morgenmantel, ging barfuß durch den Tau auf ihre Tochter zu, die völlig in Gedanken versunken war, und setzte sich neben sie. Der Bowman-Harem, wie Scott seine beiden Frauen gern nannte, war beisammen. Kaths Füße baumelten im Wasser; sie sah einem Vogeltrio, Seetauchern, zu.
»Toll, wie die das machen, was, Mom?«, sagte sie, als die Vögel ohne jeden Laut nacheinander ins Wasser eintauchten. Kaths Stimme klang apathisch und flach.
Krista fand den Tonfall ihrer Tochter so alarmierend, dass ihr Kopf momentan ganz leer war und ihr keine Antwort darauf einfiel. »Tja«, erwiderte sie schließlich, »jedenfalls können sie ihren Atem lange anhalten. Mal sehen, wie lange sie ...«
»Was ist gestern mit Dad passiert, Mom?«
Krista wandte das Gesicht ihrem Kind zu, das im schwachen Licht der Morgendämmerung so zart und verletzlich wirkte. »Es war genau so, wie er es gestern im Fernsehzimmer erzählt hat, Liebes. Dein Daddy ist da unten in den Felsen stecken geblieben und konnte sich nicht mehr befreien.«
Zwischen Kaths müden Augen bildete sich eine steile Falte. Mit einem der sonnengebräunten Füße schlug sie so heftig auf das Wasser, als wolle sie es bestrafen. Gleich darauf sah sie ihre Mutter offen an und hielt deren Blick so fest, wie es nur Kinderaugen vermögen. Bei der nächsten Frage schienen ihre Lippen zu zittern. Es war eine Frage, die sie schon seit gestern Morgen beschäftigte. »Hätte er ertrinken können, wirklich ertrinken?«
Auf diese Frage gab es nur eine einzige Antwort, eine Antwort, die Krista ganz und gar widerstrebte. Einen Augenblick lang fühlte sie sich feige und überlegte, ob sie Kath eine Lüge auftischen und ihr erzählen sollte, dass ihr Vater ein oder zwei Minuten später auch aus eigener Kraft davongekommen wäre. Aber sie verwarf den Gedanken, Kath etwas vorzumachen, genauso schnell, wie er ihr gekommen war. Hier verbot sich jede Lüge, denn später würde Kath ihr das ewig nachtragen.
Die Antwort bestand zwar nur aus einer einzigen Silbe schlichter Bestätigung, aber sie würde der Vorstellung, die allen Kindern eigen ist - meinen Eltern wird niemals etwas geschehen -, den Boden entziehen.
»Ja, mein Liebes«, erwiderte Krista, »er hätte ertrinken können.«
Kath sagte nichts, aber ihre Augen nahmen weder den glasigen, leeren Ausdruck an, den sie auch gestern Morgen im Fernsehzimmer gehabt hatten. Gleich daraufstand sie auf.
»Ich möchte nachsehen, ob's ihm gut geht«, erklärte sie leise.
Krista griff nach ihrer Hand. »Jetzt nicht, mein Liebling. Er schläft noch, lass ihn schlafen. Es geht ihm gut, du kannst später zu ihm.«
Zögernd blickte Kath zum Schlafzimmerfenster ihrer Eltern hinauf. Dann setzte sie sich wieder und plantschte mit den Füßen gedankenversunken im Wasser. Nach einer Weile ging sie schwimmen.
An diesem sonnigen Sonntagmorgen rappelte sich Scott gegen neun Uhr mühsam hoch und setzte sich auf den Bettrand. Sein erster Gedanke war, dass er sich noch nie so zerschlagen gefühlt hatte ... Selbst gestern war es nicht derart schlimm gewesen. Und jetzt machte ihm auch noch sein Kopf zu schaffen. Er fühlte sich so, als habe er gerade eine wochenlange Zechtour hinter sich.
Das Valium, dachte er, als er mit wackeligen Beinen aufstand. Das Valium hat mich geschafft Während er wie betrunken hin und her schwankte, tat er unsicher einen Schritt nach vorn. Um das Gleichgewicht zu bewahren, musste er sich am Nachttisch abstützen. Er wartete, bis sein Kopf etwas klarer wurde, und schlurfte dann vorsichtig ins Badezimmer. Am liebsten hätte er geduscht, doch als er daran dachte, dass er dabei zehn oder mehr Minuten stehen musste, entschied er sich stattdessen für ein Bad. Ein ausgedehntes Bad in einer Wanne mit heißem Wasser würde seinen lädierten Muskeln sowieso mehr nützen.