Doch es war nur eine vereinzelte Regenwolke, die langsam am Himmel dahinsegelte und sich als dunkler Schatten im See spiegelte.
»Ich geh auf keinen Fall schwimmen, Kindchen. Schwimmen ist für deinen alten Herrn ab sofort verboten. So lange, bis seine kleine Rettungsschwimmerin wieder da ist.« Oder auch auf immer und ewig, dachte er mit morbidem Pessimismus. »Also, los geht's, auf nach oben. Deine Mutter wartet schon ... Und ich glaube, sie will dir bei dieser Reise das Steuer überlassen.«
Kaths Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich hab dich lieb, alter Kumpel.« Energisch wischte sie sich die Tranen von den Wangen.
»Und ich dich.«
Als Scott vom Anlegesteg auf festen Boden trat, war ihm wohler. Lächelnd griff er nach der Hand seiner Tochter. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Haus. Kath gab sich größte Mühe, den humpelnden Scott zu stützen.
»Macht es dir auch wirklich nichts aus, dass ich den Volvo nehme?« In Kristas Freude - sie liebte den Volvo - schwang ein leichtes Schuldgefühl mit
»Nein, überhaupt nicht«, schwindelte Scott. Er warf einen Blick auf das düstere Innere der Garage und den staubigen, zweifarbigen Chevette, der ihm den Volvo bis zu Kristas Rückkehr ersetzen musste. »Rufst du mich an, wenn du bei deiner Schwester bist?«
»Genau das hatte ich eigentlich vor, Monsieur.« Krista verdrehte die Augen. Klara, ihre ältere Schwester, wohnte mit ihrem Mann am nördlichen Ufer des Saint Lawrence. Von Klara aus war man mit dem Auto in zehn Minuten in Prescott, an der Grenze zu den Vereinigten Staaten. Das Verhältnis zwischen Krista und ihrer einzigen hundertprozentig blutsverwandten Schwester - Caroline war ja ihre Halbschwester -war, milde ausgedrückt, gespannt.
Im besten Fall konnte man ihre Stippvisite bei Klara als Pflichtbesuch bezeichnen. »Ich hoffe, sie ist nicht gerade wieder in ihrer alkoholischen Phase.«
»Hat sie denn auch andere?«, fragte Scott. Er beugte sich ins Fahrerfenster, um Krista zum Abschied zu küssen, und humpelte gleich darauf zum Beifahrerfenster hinüber, um auch seiner Tochter einen Kuss zu geben. »Amüsiert euch, ihr zwei!« Er kehrte zu Krista zurück. »Und ruf mich an!«
»Mach ich.«
Krista winkte ihm zu, legte schwungvoll einen Gang ein und bretterte den Hügel hinauf. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden waren. Zurück blieb nur eine grauweiße Staubwolke über den Baumkronen.
9
Als das Brummen des Motors nur noch so leise wie das Summen irgendeines Insekts zu hören war, ging Scott quer durchs Haus zur Terrasse hinüber und ließ sich in einen Liegestuhl sinken. Zwar gab es Dinge, die er drinnen hätte erledigen können, aber ihm war noch nicht danach, durch das jetzt leere Haus zu streifen.
Seine beiden Frauen fehlten ihm bereits.
Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, welch herrliches Sommerwetter heute war. Ein heißer, diesiger Tag, dessen Ruhe und Frieden fast hypnotisch wirkten. Nicht einmal irgendein Motorboot oder Flugzeug störte die Stille. Die einzigen wahrnehmbaren Geräusche waren die der Natur ringsum: das Zirpen einer einsamen Zikade, das träge Tschirpen von Singvögeln, das leise Säuseln einer leichten Brise in den Pinien. Nur der See lag kühl und ruhig da und hielt seine Geheimnisse unter der wie Quecksilber schimmernden Oberfläche verborgen.
Wie nicht anders zu erwarten, wanderten Scotts Gedanken erneut zum Seegrund hinunter. Als er jetzt daran zurückdachte, wurde ihm klar, dass sein Hirn bereits damit begonnen hatte, das Erlebnis einzukapseln, wie es in seiner Fachsprache hieß - dass eine Art Verdrängungsprozess eingesetzt hatte. Denn als er versuchte, sich die näheren Umstände des Geschehens vor Augen zu führen, musste er feststellen, dass es ihm nicht gelang. Dagegen konnte er sich mühelos ins Gedächtnis rufen, wie Krista ihre Aerobic-Übungen vollführt hatte oder Kath ihm auf dem Weg zum See entgegengerannt war, um ihn zu begrüßen. Die Erinnerung an seinen Kampf unter Wasser war bereits so durchlässig wie die an irgendeinen Traum.
Als Psychiater war Scott klar, dass er es hier mit einer Art eingebauter Sicherheitsvorrichtung der Psyche zu tun hatte. Jedem Input, den das Hirn als unerträglich einschätzte, verweigerte es schlicht und einfach den Zutritt, leugnete die Erfahrung - oder milderte sie, wie in diesem Fall, zumindest so weit ab, dass sie als gar nicht wirklich geschehen abgespeichert wurde. Selbstverständlich hatte er das verzweifelte Gefühl zu ersticken nicht vergessen, genauso wenig wie das alles beherrschende, wahnsinnige Entsetzen, das ihn gepackt hatte, als er zu sterben glaubte. Aber die schneidend scharfen Ecken und Kanten waren inzwischen geglättet und die Erfahrungen nicht mehr unmittelbar präsent, sondern in der Erinnerung auf barmherzige Weise eingetrübt - so, als sei das alles schon Jahre her oder nur ein Traum.
Von dieser schlauen Sicherheitsvorrichtung im Hirn sprangen seine Gedanken als Nächstes zu Delia Horners Brief und zu den davon ausgelösten düsteren Erinnerungen - Erinnerungen an Geschehnisse, die Jahrzehnte zurücklagen. Dass das Gedächtnis in diesem Fall funktionierte, war zwar eine weitere erstaunliche Fähigkeit des Geistes, aber eine, die keineswegs dem Selbstschutz diente. Scott hielt diese Fähigkeit sogar für so schädlich und selbstzerstörerisch, dass sie das Hirn im schlimmsten Fall in eine nutzlose, breiige Masse verwandeln konnte. Diese Fähigkeit machte es möglich, sich bestimmte Ereignisse blitzschnell ins Gedächtnis zurückzurufen und all die Schrecken, die das Hirn so mühsam verdrängt hatte, sofort und akkurat mit allen grässlichen Einzelheiten ins Bewusstsein zurückzuholen.
Gestern Abend hatte er beim Lesen von Delia Horners Brief jenen Sommermorgen längst vergangener Tage noch einmal so durchlebt, als sei er unmittelbar gewärtig. Diese wenigen Sekunden, die sich bis in alle Ewigkeit gedehnt hatten, waren mit so scharfen, erschütternden Details vor seinem geistigen Auge aufgeblitzt, dass er einen Moment lang gefürchtet hatte, überzuschnappen und fortan empfindungslos und innerlich leer dahinzuvegetieren.
Er lehnte sich im Liegestuhl zurück und erlaubte seinem Hirn, das alles nochmals zu verarbeiten. Er hätte es auch gar nicht verhindern können, selbst wenn er gewollt hätte.
In all diesen Jahren - sechzehn waren es inzwischen - hatte sich das Schamgefühl als das Schlimmste und Hartnäckigste erwiesen. Es sah so aus, als werde er es niemals loswerden. Und selbst jetzt, während er allein auf der Terrasse saß, war er der Scham wie einer Krankheit ausgesetzt, wie einer nässenden, elenden Beulenpest. Er konnte sie fast riechen. Seine Muskeln waren angespannt, die Handflächen feucht vor Schweiß, während sein Hirn ihn zwang, durch mühsam errichtete Schichten der Verdrängung zu stoßen, zurück zu dem voll gestopften Volkswagen und jener dunklen, gewundenen Straße.
Du bist weggerannt, höhnte eine fast vergessene Stimme. Du hast dich aus dem Staub gemacht!
Diese Feststellung, an der nicht zu rütteln war, fuhr sengend heiß wie ein Stromschlag durch seinen Körper.
An jenem Morgen war es noch dunkel gewesen. Und still... Es war während dieser kurzen, fast mystischen Zeitspanne geschehen, in der die Nacht dem Tag weicht. Scott hatte über dem toten Kind gekniet, während sein Verstand gefährlich nah an einen inneren Abgrund geriet, von dessen Existenz er bislang gar nichts gewusst hatte. Und dann hatte er nach oben geblickt, direkt in Jakes Augen, und hatte gewusst, was sein Freund gerade dachte. Es hatte nichts mit übernatürlichen Dingen wie Telepathie zu tun gehabt, sondern nur daran gelegen, dass sie alle drei im selben Moment dasselbe gedacht hatten.
Wir müssen abhauen!
Sie hatten sich verfahren, waren völlig betrunken und meilenweit von den heimatlichen Gefilden entfernt. Als Scott scharf auf die Bremse getreten war, hatte Lakings Beutel mit Marihuana seinen Inhalt über den ganzen Rücksitz verteilt ... Und das Kind war tot, daran war nichts mehr zu ändern.