Es dauerte nur Sekunden. Doch während dieses katastrophalen Zwischenfalls sollte Scott Bowman erfahren, wie relativ Zeit sein kann. Es kam ihm so vor, als ob sich endlose Folter im schlimmsten Fegefeuer in diese wenigen Sekunden presste. Die Zeit dehnte sich bis in alle Ewigkeit.
Die Folter ging weiter und weiter und weiter.
Die niedrige Stoßstange des Käfers erwischte die Kleine direkt über den Knien. Wie ein getroffener Kegel fiel sie um, direkt auf die schräg abfallende Motorhaube. Ihr Kopf prallte mit einem metallischen »Klonk« auf. Es war ein dumpfer, tödlicher Laut, der Scott noch aus unzähligen Albträumen wecken sollte.
Gleich darauf rollte sie hoch. Ihre schlanken Beine wirkten so, als hätten sie gar keine Knochen, und bogen sich nach rechts, während ihre Arme sich wie Windrädchen in kleinen, lächerlichen Kreisen drehten. Jetzt war ihr Gesicht direkt vor Scott, nur ein paar Zentimeter entfernt. Ihre Augen waren glasig, aber immer noch auf ihn gerichtet, obwohl sie fast sicher schon tot war.
Sie sieht mich an. Oh, lieber Gott, sie sieht mich direkt an ...
Dann knallte ihr Gesicht mit einem scharfen Geräusch so heftig gegen die Windschutzscheibe, dass sie zerbarst. Die glitzernden Scherben fielen nach innen und stachen wie wütende Hornissen. Der nächste Augenblick kam ihm so vor, als werde das Mädchen ewig dort hängen bleiben, während die leblosen Augen ihn anklagend anstarrten. Dann war es fort, zur Seite gerutscht, in die fahle schwindende Nacht.
Der Wagen schlingerte zweimal hin und her, das Heck rutschte zurück auf den Asphalt und kam schleudernd über dem verblassten Mittelstreifen zum Stehen. In der Windschutzscheibe war ein faustgroßes, gezacktes Loch. Daneben sickerte eine kleine, fast unbedeutend wirkende Blutspur wie ein Rinnsal zur linken Seite. Durch das Loch drang kühle Luft und strich über Scotts angstbleiches Gesicht. Es roch nach Blut - wie bei einer Schlachtung. Er schloss die Augen und versuchte, die Zeit zurückzudrehen. Alles, was er brauchte, waren ein paar Sekunden.
Er wollte zu dem Augenblick zurückkehren, in dem das Kätzchen aufgetaucht war. Diesmal würde er das dumme Ding einfach überrollen und weiterfahren, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Satzfetzen schossen ihm durch den Kopf, verzweifelt gestammelte Gebete, die sich an irgendeinen Gott richteten, ob christlich, heidnisch oder was auch immer; Hauptsache, dieser Gott erhörte seine Bitten.
Oh lieber Gott lass sie leben bitte lass sie leben tu alles was du willst aber lass sie leben ich flehe dich an ...
Scott zitterte wie in Krämpfen, jede Faser seines Körpers brannte vor purem Entsetzen. Als er mit den Fingern sein Kinn betastete, stieß er auf Blut, sein eigenes Blut. Es rann aus einer erbsengroßen Wunde. Offenbar hatte ihn eine Salve herumfliegender Glasscherben erwischt. Ein Traum bitte lass es einen Traum sein ... Langsam öffnete er die Augen. Er sah seine Freunde nicht an, sondern blickte auf die Windschutzscheibe - in der verzweifelten Hoffnung, sie sei wieder heil, das faustgroße Loch samt dem Spinnennetz aus Rissen verschwunden, die Blutspur gelöscht. Aber das Loch war dort... Genau wie das Blut. Die Wirklichkeit hatte ihn wieder. Er hörte, wie eine Tür laut zugeschlagen wurde. Leise, bestürzte Stimmen, die durcheinander sprachen. Gleich darauf glitt Scott aus dem Wagen und folgte den Silhouetten seiner Freunde, die jetzt gebückt auf die kleine, zusammengesunkene Gestalt auf der Straße zuliefen. Während die anderen zurückwichen, fiel er neben dem Mädchen auf die Knie. Er war kein Arzt, noch nicht. Aber er wusste, dass die Kleine tot war. Genauso, wie er wusste, dass ein Teil von ihm zusammen mit ihr gestorben war. Als er seine Hand an ihren Hals legte, schlackerte ihm ihr Kopf entgegen. Ihre Augen waren immer noch geöffnet, starrten ihn immer noch mit leerem Blick an.
»Fass sie nicht an«, sagte Brian in die morgendliche Stille hinein. »Du könntest ihre Wirbelsäule verletzen.«
»Sie ist tot, du Arschloch«, bemerkte Jake kalt.
Beim Klang von Jakes Stimme sah Scott auf. Sein Herz tat einen Sprung.
Jakes Augen - normalerweise von einem sanften, blassen Grün - wirkten jetzt so, als erhellten sie mit ihrem bernsteinfarbenen Glanz die Straße, während er sie in beide Richtungen schweifen ließ und den Blick anschließend dem angrenzenden Wald zuwandte. Er stand mit vorgezogenen Schultern da, den Kopf grübelnd zur Seite geneigt. Einen Augenblick lang tauchte vor Scott das Bild einer angespannten Wildkatze auf, die Gefahr riecht und sich bereitmacht, ihrem Opfer den Bauch aufzuschlitzen.
In diesem Moment wurde Scott jeder einzelne Gedanke seines Freundes bewusst. Weil er die gleichen Gedanken hatte.
Brian Horners riesiger Körper zeichnete sich gegen den indigoblauen Himmel ab. Er schwankte hin und her, starrte wie benommen auf das Kind und begann gleich darauf zu wimmern. Erst jetzt wurde ihm nach und nach klar, was geschehen war.
Als Scott sich wieder der Kleinen zuwandte, merkte er, dass sie ein Albino war. Das erklärte die geisterhafte Blässe, das schneeweiße Haar ... und diese Augen! Ihnen fehlte jedes Pigment, deshalb hatten sie das Scheinwerferlicht rot reflektiert.
Rot war auch ihr Blut, das zähflüssig und warm an seiner Hand klebte. Inzwischen hatte sich eine Pfütze aus Blut gebildet, die ihren zerschmetterten Schädel wie ein gotteslästerlicher Heiligenschein umrahmte.
Die Welt stand Kopf. Die Dunkelheit, die schon auf dem Rückzug gewesen war, kehrte plötzlich wieder und breitete sich in Scotts Blickfeld wie pechschwarze Tinte aus. Er hörte eine barsche, vorwurfsvolle Stimme — Jakes Stimme. Dann gruben sich klauenartige Finger in seine Schulter. Aber die Stimme klang wie sehr weit weg und hohl, als dringe sie vom Grunde eines dunklen, leeren Brunnens zu ihm empor.
Und jetzt stürzte er in diesen Brunnen hinab ... tiefer und tiefer ... Immer schneller drehte sich die Spirale.
Auf dem Grund wartete das weiße Gesicht des Kindes auf ihn.
Und Augen, die wie Feuer brannten.
1
15. August 1988
Am Morgen seines 37. Geburtstags wachte Scott Bowman durch seinen eigenen erstickten Schrei auf. Er saß aufrecht im Bett und zerrte mit geballten Fäusten an der Bettdecke, so dass der nackte Rücken seiner Frau bloßlag. Er hatte ein panikartiges Gefühl in der Magengrube, und zu seinem eigenen Erstaunen liefen Tränen an seinen stoppeligen Wangen hinunter. Während er orientierungslos und verschwitzt im Bett saß, kullerte eine einzelne Träne auf seine Lippen und drang in seinen Mund. Sie schmeckte salzig auf der Zunge, ein warmer, intimer Geschmack, den er beinahe schon vergessen hatte. Für Tränen hatte es seit sehr langer Zeit keinen Grund mehr gegeben.
Er stellte fest, dass er geträumt hatte. Sofort versuchte er, die Bilder zurückzurufen, die eben noch so plastisch gewesen waren. Aber wie so oft drängten sich andere Gedanken und Wahrnehmungen dazwischen, so dass er tief in seinem Gedächtnis kramen musste.
Er schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Da war ein steriler, weißer Raum ohne Fenster gewesen. Es war heiß dort gewesen, und er hatte das bedrückende Gefühl gehabt, er sei hier von aller Welt vergessen worden, eingesperrt ... Aber das war alles, was er ins Bewusstsein zurückholen konnte.
Er öffnete die Augen, starrte auf den gebräunten Rücken seiner schlafenden Frau und lauschte ihren regelmäßigen Atemzügen. Gleich darauf, als müsse er sich von ihrer realen Existenz überzeugen, streckte er die Hand nach ihr aus und berührte sie. Krista fuhr zusammen, seufzte leicht und ließ sich zurück in den Schlaf sinken. Scott musste ein wenig lächeln: Krista würde wahrscheinlich sogar wahrend einer Bombenexplosion weiterschlafen. Sie selbst führte es auf ihr reines Gewissen zurück. Es gab einfach nichts, das ihr nervend durch den Kopf ratterte, wenn es Zeit war, die Lebensbatterien wieder aufzuladen.