Ohne dass auch nur ein Wort gewechselt wurde, war allen eine Sache sofort klar gewesen: Falls sie an Ort und Stelle blieben und sich zu ihrer Tat bekannten, waren sie geliefert.
Also hatten sie sich in den Käfer gequetscht und aus dem Staub gemacht. Aufgrund ihres Schocks und der Angst waren sie aufs Geratewohl gefahren und ständig von einer Straße auf die nächste abgebogen. Da sie sich auf der Flucht befanden, war es ihnen völlig gleichgültig gewesen, wo sie landen würden. Das Einzige, was zählte, war, möglichst schnell und möglichst weit vom Tatort wegzukommen. Sie wollten nichts anderes, als Abstand zu dem entsetzlichen Erlebnis am frühen Morgen gewinnen - ein Erlebnis, das sich ihnen für immer ins Gedächtnis brennen sollte.
Auf der Terrasse seines Hauses in Gatineau Hills rückte Scott im Liegestuhl vor und verschränkte die Arme vor dem Körper, als bereite er sich auf einen Flugzeugabsturz vor. Seine Augen waren zwar auf den See gerichtet, aber von einem Schleier überzogen. Er nahm nichts wahr. Niemals hatte er an Gott geglaubt - zumindest nicht an einen Gott im herkömmlichen Sinne -, aber jetzt spürte er das Auge der Gerechtigkeit auf sich. Genau wie damals, vor all den Jahren.
Später an jenem Morgen hatte es geregnet. Es war ein plötzlicher, reinigender Schauer gewesen, der die Blutspuren vom Wagen tilgte. Am Stadtrand von Boston hatten sie aufgetankt und waren mit der Füllung bis nach Springfield in Vermont gekommen. Dort hatten sie an einer Waschanlage mit Selbstbedienung gehalten und mit dem Staubsauger Jakes Marihuana vom Rücksitz entfernt. Danach hatten sie ihr gesamtes Geld zusammengelegt und eine neue Windschutzscheibe für den VW besorgt. Wie es der Zufall wollte, hatte die Autoglaserei in Springfield sogar eine passende Scheibe vorrätig gehabt und Zeit, sie zu montieren, da keine anderen Kunden warteten. Schon eine Stunde später waren sie wieder auf der Straße gewesen. Sie hatten sich achtsam an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten und nicht ein Wort miteinander gewechselt.
Vier Stunden später waren sie an der Grenze nach Ontario. Nach den üblichen Fragen hatte der Zollbeamte sie einfach durchgewinkt. Keine Spur von Verdacht. Erst danach hatte sich die von Angst gespeiste Energie, die sie die ganze Zeit
über am Laufen gehalten hatte, nach und nach verflüchtigt. Da war ihnen schließlich gedämmert, wie unsäglich widerlich sie sich verhalten hatten. Zwei oder drei Kilometer nördlich der Grenze hatte Scott den Wagen auf den Randstreifen gelenkt, sein Gesicht in den Händen vergraben und losgeheult Brian Horner - seit dem Unglück hatte er kein Wort mehr gesprochen - hatte ebenfalls geweint, so heftig, dass Wellen von Schluchzern den ganzen Körper erschütterten. Jake hatte hinten im Wagen nervös herumgezappelt und durch die neue Windschutzscheibe gestarrt. Es war ihm anzumerken, was er dachte: Wären wir drei uns doch niemals begegnet...
Sie waren eine Weile dort geblieben, jeder in seine eigenen trüben Gedanken verstrickt. Auf der Heimfahrt hatten sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich auf irgendeine Geschichte zu einigen, um ihre vorzeitige Rückkehr - eine Woche früher als geplant — zu erklären.
Scott bekam immer noch eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, was Jake als Letztes zu ihm gesagt hatte, während sie bei Nieselregen vor dem Haus von Jakes Eltern im südlichen Teil von Ottawa gehalten hatten: Falls du die Nerven verlierst, Bowman, falls du ausrastest und dich irgendwie über diese Sache auslässt, dann bring ich dich um, Mann. Dann bist du tot, das ist mein voller Ernst.
Die Nerven hatte Scott nicht verloren, wohl aber seinen Verstand, jedenfalls beinahe. In den ersten zwei Wochen hatte er überhaupt keinen Schlaf gefunden. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, tauchte die Kleine auf, krachte auf die Motorhaube, schlug gegen die Windschutzscheibe, blieb in der schnell wachsenden Pfütze ihres eigenen Blutes liegen. Scott wurde depressiv, verlor jeden Antrieb und Appetit. Schließlich verschlimmerte sich sein Zustand so, dass er ins Krankenhaus musste.
Anfangs hatten die Arzte angenommen, es könne das Pfeiffersche Drüsenfieber sein oder auch ein Magengeschwür. Später hatten sie auf einen Hirntumor und schließlich auf Krebs getippt. Als sie nichts finden konnten, um irgendeine dieser Diagnosen zu erhärten, hatten sie die psychiatrische Abteilung eingeschaltet. Scotts Psychotherapeut war ein großer Mann mit sanfter Stimme; später hatte Scott bei ihm studiert und ihn unter all seinen Professoren am höchsten geschätzt. Diesem Mann hätte er um ein Haar alles erzählt. Beinahe hätte er ihm die ganze Geschichte gebeichtet.
Aber letztendlich hatte er dann doch alles für sich behalten, wo es weiter an ihm nagte und ihn bis in die Träume hinein verfolgte.
In diesem ersten endlos langen Jahr war es ihm so vorgekommen, als breche sein Leben Stück für Stück auseinander. Wegen seines Klinikaufenthalts konnte er nicht rechtzeitig zu Semesterbeginn an der Medizinischen Hochschule erscheinen, was ihn fast den Studienplatz gekostet hätte. Während er sich von seinen Eltern und Freunden mehr und mehr zurückzog - Jake war in Harvard, Brian in Winnipeg vergrub er sich in die Lehrbücher. Dennoch war sein Notendurchschnitt an der untersten Grenze, so dass ihn seine Professoren mehr als einmal zu sich zitierten.
Doch mit der Zeit hatte das enorme Arbeitspensum, das er zu bewältigen hatte, wie Balsam gewirkt. Diese ersten vier Studienjahre vergingen wie im Fluge, vielleicht half auch das. Jedenfalls verwandelte sich die stets präsente Erinnerung an jenen tragischen Sommermorgen nach und nach in etwas, das nur noch undeutlich und unterbewusst vorhanden war, und das war eine Gnade für ihn.
Aber diese Erfahrung hatte ihn verändert. Verschwunden war der großspurige, selbstsichere junge Mann, der unbedingt Geburtshelfer hatte werden wollen. Verschwunden der Junge mit den wachen Augen, der geglaubt hatte, das Leben habe nur Gutes mit ihm vor. Wie sollte er seinen Facharzt in Geburtshilfe machen und Babys auf die Welt verhelfen, wenn er noch vor Studienbeginn einem Menschen auf brutale Weise, aus purer Unachtsamkeit das Leben geraubt hatte? Wie sollte die Zukunft irgendetwas anderes für ihn bereithalten als Schuld- und Schamgefühle?
Die Scham ... diese unaussprechliche Scham, die alles überdauerte, das Entsetzen und selbst das schlechte Gewissen. Sie verließ ihn nie, selbst als die Albträume nach und nach ausblieben.
Doch dann war er Krista begegnet, und selbst das Schamgefühl hatte sich mit der Zeit vermindert. Am Anfang ihrer Ehe hatte er eine Weile wieder Albträume gehabt, aber inzwischen hatte sich Scott noch mehr verändert, durch Kristas Liebe. Und durch ihr Kind. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich auch schon für sein Fachgebiet entschieden. Und als er sich zum Facharzt für Psychiatrie ausbilden ließ, was ihm dabei half, sein Inneres tiefer zu erforschen, waren die alten Wunden allmählich verheilt.
Irgendwann hatte er alles tief in seinem Inneren vergraben. Nicht vergessen, aber begraben.
Ehe sich Scott an diesem Abend auf einen schweren Kampf mit der Schlaflosigkeit einließ (den er schließlich gewann), rief er noch Vince Bateman unter dessen Privatnummer an. Er erzählte seinem Abteilungsleiter von dem schlimmen Erlebnis, bei dem er fast ertrunken wäre, und sagte, er werde sich den Montag freinehmen. Allerdings versprach er, an der jährlichen Budgetkonferenz der Abteilung am Montagabend teilzunehmen, wofür Bateman dankbar war, denn diesmal war Scott mit der Leitung dran.
Krista rief um zwanzig Uhr dreißig an und teilte ihm mit, es gehe ihnen gut. Klara sei so angetrunken und feindselig wie üblich und hacke wie immer auf ihrem grummelnden Schlappschwanz von Ehemann herum. Scott verbrachte eine ganze Weile damit, Krista zu versichern, er fühle sich schon viel besser und sei nur noch ein bisschen steif. Wohlweislich vermied er es, seine Hüfte zu erwähnen, die schrecklich pochte und Schuld daran war, dass er wie ein Krüppel humpelte. Danach kam Kath an den Apparat. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass sie wieder viel normaler klang: fröhlich,