unerschrocken und aufgeregt wegen der Reise. »Ich hab dich Heb«, sagte sie und schickte ihm ein feuchtes Küsschen durch die Leitung. Als sie auflegte, tat Scott das Herz ein bisschen weh. Es wäre ihm am liebsten gewesen, hätte er die ganze Woche blaumachen und sich zu ihnen nach Boston verdrücken können.
Vielleicht lag es an der Schmerztablette, die er vor dem Zu-Bett-Gehen eingenommen hatte, jedenfalls gewann er irgendwann im Laufe der Nacht den Kampf gegen die Schlaflosigkeit und fiel in traumlosen Schlummer. Recht spät am nächsten Morgen genehmigte er sich nach einer entspannenden Dusche ein riesiges cholesterinreiches Frühstück und zog sich danach an. Ehe er das Haus verließ, holte er fast gedankenlos den Film aus der Minolta und steckte ihn ein. Als er in der Garage war und merkte, dass dort nur Kristas Chevette auf ihn wartete, bekam er einen leichten Schreck. Er hatte völlig vergessen, dass sie seinen Volvo genommen hatte.
Auf dem Weg in die Stadt drehte er das Radio fast auf volle Lautstärke, damit es das Geratter des Chevette übertönte. Es war ein grauer, trüber Tag. Und es sah ganz danach aus, als könne es bis in alle Ewigkeit so bleiben.
10
Wie der Verkäufer im Foto-Shop ihm mitteilte, würden die Abzüge in einer Stunde fertig sein, er könne, falls er wolle, darauf warten. »Vielleicht möchten Sie in der Zwischenzeit auf einen Kaffee und Donuts ins Dunkin gehen? Ist gleich nebenan.«
Das war ihm recht. Der Kaffee ging ihm herunter wie süße, warme Medizin.
Während er auf die Fotos wartete, war er seltsam aufgeregt. Unmittelbar nach dem Erlebnis, bei dem er fast ertrunken wäre, hatte er den alten Künstler und die eigenartige Zeichnung, die etwas tief in seinem Gedächtnis Vergrabenes geweckt hatte, beinahe vergessen. Seine durch und durch rationale Einstellung dazu hatte sich in der Zwischenzeit nicht geändert: Sicher würde sich alles als völlig belanglos erweisen.
Und dennoch ...
Er trank den Kaffee aus und verließ das Dunkin'Donuts. Als er zum Foto-Shop zurückkehrte, liefen seine Abzüge gerade über das schmale Transportband; er konnte sie durch die Seitenwände aus Plexiglas erkennen.
Bei den ersten Fotos musste er lächeln: Es waren Schnappschüsse vom ersten Weihnachtsfest, das sie im neuen Haus gefeiert hatten.
Ganz oben lag eine Aufnahme von Kath, die vor dem mit Spielzeug und Lametta geschmückten Baum hockte und mit den schönsten ihrer zahlreichen Weihnachtsgeschenke angab. Dann folgte ein Bild von Krista und ihm, das Kath geknipst hatte, wobei sie einen Finger dilettantisch vor die Linse gehalten hatte. Krista, die vor Freude feuchte Augen hatte, umarmte ihn. Ihre neuen (und keineswegs billigen) Diamantohrringe funkelten prächtig im Schein des Blitzlichts. Und hier war noch eines von Kath, die eine neue blaue Skijacke über dem baumwollenen Schlafanzug mit Alf-Motiven trug. Auch die folgenden Bilder lösten allesamt schöne Erinnerungen aus.
Und dann kam langsam die algengrüne, unterbelichtete Aufnahme das Transportband hinunter, die er unter dem Anlegesteg geschossen hatte.
Scott schnappte mühsam Luft. Es war zwar ein lausiges Foto, würde aber seinen Zweck erfüllen. Er würde es mit der Zeichnung vergleichen können.
Auf den letzten beiden Abzügen war überhaupt nichts zu sehen.
Während sich seine Neugier mit jeder Minute verdreifachte, bezahlte er die Fotos und brach zur Klinik auf.
Er ging direkt ins Zimmer des Alten, fand dort aber keine Spur von ihm. Das Bett war ordentlich gemacht, der Rollstuhl fehlte. Als Nächstes sah Scott im Aufenthaltsraum nach. Nachdem er festgestellt hatte, dass dort niemand saß, trat er ins Schwesternzimmer nebenan.
»Entschuldigung«, sagte er zu der Dienst habenden Schwester, »wo ist der Patient aus 209 C?«
»Der Zeichner?« Die Schwester kicherte. »Der ist mit seinen Kumpels draußen, macht mit dem Bus ´nen Ausflug in den Sonnenschein. Ist vorgeschrieben, dass die Tattergreise einmal in der Woche an die Luft kommen, ob sie's mitkriegen oder nicht.« Sie kreuzte die fälligen Arme über der ausladenden Brust. »Warum? Haben Sie heute wieder Studenten da?«
»Nein, ist auch nicht so wichtig, danke. Ich sehe dann später nach ihm.«
Enttäuscht ging er zu einem Telefon, um eine Nachricht für Steve Franklin, den orthopädischen Chirurgen, durchzugeben. Doch während er den Hörer abnahm, kam ihm plötzlich eine Idee. Er legte wieder auf und kehrte hastig ins Zimmer des Alten zurück.
Nach kurzer Suche fand er die Künstlermappe, die jemand so, dass sie nicht zu sehen war, hinten im Schrank des Alten verstaut hatte. Außer ihm selbst befanden sich nur ein Patient und seine beiden Besucherinnen im Zimmer, die Scott kaum beachteten, während er die Mappe sorgfaltig durchging.
Als Scott das, wonach er suchte, gefunden hatte, wich alles Blut aus seinem Gesicht. Die einzige Zeichnung, die er am Freitag gesehen hatte, bildete jetzt nur noch den Auftakt einer unglaublichen Serie von Cartoons, die zwei Blätter ganz und gar füllten. Während er sie musterte, zitterten ihm die Finger.
Es konnte keinen Zweifel mehr daran geben, dass die Zeichnung seinen Landesteg darstellte, das erkannte er deutlich, ohne sie erst mit dem Foto vergleichen zu müssen. Die erste Skizze sah genau wie vorher aus: Sie zeigte die gerippten Fässer, die Ornamente mit der weißen Rose und die Latten aus Zedernholz aus verzerrter Perspektive von unten. Nur spiegelte sich auf der geriffelten Wasseroberfläche jetzt die Silhouette eines Tauchers, der in vorgebeugter Haltung auf dem Landesteg stand. Auf der zweiten Abbildung, die das mittlere Drittel des Blattes einnahm, sprang der Taucher mit den Füßen voran ins Wasser. Auf der dritten Zeichnung war die Gestalt von kopfhohen Algen umzingelt. Während ein großer Strom von Luftblasen aus seinem Mund aufstieg, glotzte der Taucher entsetzt auf sein Bein, das im Felsgestein festklemmte.
Als er sich das nächste Blatt vornahm, standen Scott Schweißperlen auf der Stirn. Der Taucher sah ihm keineswegs ähnlich, natürlich nicht, es war ja nur ein Cartoon ... Aber Situation und Umgebung waren eindeutig wiederzuerkennen.
Die nächste Zeichnung zeigte, wie sich der Taucher hoffnungslos in den Algen verfangen hatte. Die leeren Augen, die denen einer Puppe ähnelten, waren so verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war. Der Mund, in den jetzt Wasser eindrang, war zu einem Schrei des Entsetzens aufgerissen. Über der Gestalt zeichneten sich Rumpf und Kiel eines Bootes ab. Im Vordergrund hingen ein Tau und ein funkelnder Anker. Im Hintergrund waren zwei blutrote, dämonische Augen zu sehen, die boshaft aus den trüben Tiefen zum Taucher hinaufstarrten. Aus den Felsen ragte eine von Adern durchzogene, reptilienartige Klaue, die nach den Knöcheln des Tauchers griff.
Die letzte Zeichnung sah Scott wie durch einen Nebelschleier, der sich dichter und dichter um ihn legte. Es war die Nahaufnahme einer von Algen umschlungenen Hand, die sich vorstreckte, um das rettende Tau zu erreichen ...
Und es verfehlte.
»Mister?«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Ist Ihnen nicht gut?«
Scott spürte Gallenflüssigkeit in der Kehle. Irgendjemand drückte ihm eine Hand auf den nass geschwitzten Rücken. »He, Sie da, Sie setzen sich wohl besser hin. Sie sehen ganz blass um die Nase aus.«
Scott spürte, wie ihn Hände zum Bett des Zeichners geleiteten. »Betty«, murmelte eine andere Stimme, »hol eine Schwester.« Scott gehorchte ohne Widerstand. Immer noch hingen seine Augen an der letzten Abbildung.
Bateman saß vorgebeugt in seinem Chefsessel, die Zeichnungen hatte er vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet Seine lebhaften, haselnussbraunen Augen huschten interessiert von Bild zu Bild. Scott, der sich inzwischen besser fühlte, saß ihm gegenüber an dem imposanten Teakholz-Schreibtisch. Im Zimmer des Alten wäre er fast ohnmächtig geworden.