Scott, dessen Blick immer noch auf den Zeichnungen ruhte, nickte zustimmend. Allerdings hatte er eigentlich gar kein Interesse an irgendwelchen Erklärungen. Schließlich hatte er Beweismaterial vorliegen, und das reichte ihm aus. »Und was sollen wir jetzt mit ihm machen?«
»Befassen Sie sich mit ihm, beobachten Sie ihn«, erwiderte Bateman, als habe er einen Trottel vor sich. »Isolieren Sie ihn. Morgen früh werde ich als Erstes dafür sorgen, dass er ein privates Einzelzimmer erhält. Außerdem werde ich eine Krankenschwester anweisen, ihn ständig zu überwachen.« Als Bateman grinste, flackerte etwas in seinen Augen auf, das Scott nicht sympathisch war. »Vielleicht haben wir jetzt einen kleinen Wahrsager vor Ort, der uns ganz persönlich zur Verfügung steht.« Batemans schmale Lippen verzogen sich zu einem humorlosen Lächeln. »Das wär doch was, oder? Wenn er durchhält, wird er im Herbst bei der Jahrestagung für Parapsychologie in New Orleans einen ausgezeichneten Fall für die Präsentation abgeben. Vielen Dank dafür, Scott, dass Sie mich einbezogen haben. Dafür schulde ich Ihnen etwas.«
Er stand auf.
»Keine Ursache«, entgegnete Scott. »Ich war nur schwer beeindruckt ... von diesen verdammten Zeichnungen.« Er zögerte und warf erneut einen Blick auf die bedrohlichen, roten Augen des Seeungeheuers. Dies war das einzige Blatt, auf dem Scott irgendeine Kolorierung entdeckt hatte. Er reichte es Bateman. »Welchen Färbstoff hat er Ihrer Meinung nach für die Augen verwendet?«
Bateman hielt das Blatt in den Lichtkegel der Schreibtischlampe und kratzte mit dem Daumennagel an der dünnen roten Farbschicht. Dann zuckte er die Achseln und gab Scott das Blatt zurück. »Sieht wie Blut aus.«
11
»Können Sie es herausbekommen?«
Der Laborant kratzte sich am bärtigen Kinn. »Das kann ich jetzt noch nicht sagen, Dr. Bowman. Die Probe ist schrecklich klein.«
Nachdem Scott Batemans Büro verlassen hatte, war er direkt ins Labor der Hämatologie gegangen, das sich im Kellergeschoss der Klinik befand. Batemans Hypothese, es könne sich bei dem Farbstoff um Blut handeln, hatte bei Scott eine Gänsehaut ausgelöst Er wollte diese Sache geklärt wissen. Schließlich war es ja durchaus möglich, dass der Alte zu krankhaften Selbstverstümmelungen neigte, auch wenn die körperlichen Anzeichen dafür fehlten.
»Können Sie das nicht in irgendeiner Flüssigkeit oder so was auflösen? Die Sache ist wichtig!«
»Kann's versuchen.« Der Labortechniker kratzte den Farbstoff ab und trug ihn auf einer flachen, kleinen Platte auf. »Aber das wird ein bisschen dauern. Wo kann ich Sie erreichen?«
»Am besten, Sie piepsen mich über Funk an. Heute Nachmittag bin ich die meiste Zeit in der Klinik unterwegs.«
Anschließend ging Scott in sein Büro, teilte seiner Sekretärin im Vorzimmer mit, er sei jetzt für niemanden zu sprechen, und sperrte die Tür hinter sich ab. Während er die Beine auf einen Stuhl legte, ging er die Zeichnungen gründlich durch.
Als er die Skizzen im Zimmer des Alten zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihm so vorgekommen, als müsse er die ganze Katastrophe noch einmal durchleben. Bei geschlossenen Augen hatte er tatsächlich spüren können, wie die Algen sich um seine Haut wanden und das Wasser ihm die Kehle zuschnürte. Mehrere Sekunden hatte er unter Schock gestanden, bis sich in seinem Kopf schließlich die einzige Schlussfolgerung durchsetzte, die wenigstens ansatzweise plausibel war. Zum selben Schluss war er auch am Morgen des Zwischenfalls unter dem Landesteg gekommen. Dies alles konnte nur an irgendeinem absonderlichen und höchst komplexen Zusammentreffen verschiedenster Umstände liegen. Es war bloßer Zufall.
Selbstverständlich hatte sein Verstand nach dieser Krücke gegriffen. Diese Erklärung erschien ihm immer noch recht verlockend, allein schon deswegen, weil sie so vernünftig klang.
Aber welcher enorme und völlig unwahrscheinliche Zufall sollte das gewesen sein?! Abgesehen von dem Seeungeheuer, lag der einzige Unterschied zwischen Zeichnungen und Wirklichkeit darin, dass die Hand auf dem Cartoon das rettende Tau nicht erreicht hatte.
Hatte sich der Alte in diesem Punkt geirrt? Inzwischen glaubte Scott seinen Prophezeiungen, obwohl ihm nichts lieber gewesen wäre, als die ganze Angelegenheit als völlig verrückt abzutun. Oder hatte er selbst es irgendwie geschafft, dem ihm vorherbestimmten Tod ein Schnippchen zu schlagen?
Er schüttelte den Kopf. Er watete hier durch einen ganzen Sumpf von Fragen, die jeder Vernunft spotteten.
Gleich darauf ließ er die Zeichnungen los, so dass sie ungehindert auf die Schreibtischplatte segelten. Wie so oft, wenn er im Büro eine ruhige Minute fand, wandte er sich dem gerahmten Familienfoto auf dem Regal hinter sich zu. Aber das Foto stand nicht am gewohnten Platz.
Scott sprang so hastig auf, dass er die verletzte Hüfte strapazierte. Nachdem er einen Augenblick lautlos vor sich hin geflucht hatte, durchsuchte er das ganze Büro nach dem Bild.
Schließlich meldete er sich über die Gegensprechanlage bei seiner Sekretärin.
»Ja, Dr. Bowman?«, war Claires Stimme zu hören.
»Aus meinem Büro ist ein Foto verschwunden, Claire, das Foto von meiner Familie. Vermissen Sie auch irgendetwas?«
»Nicht dass ich wüsste, Doktor, aber ich werd mal genauer nachsehen.«
»Ja bitte, wenn's nicht zu große Mühe macht. Noch etwas, Claire: Erkundigen Sie sich, wer hier sauber gemacht hat Kann ja sein, dass das Foto beim Putzen heruntergefallen und der Rahmen zerbrochen ist Und dann haben die aus Angst nichts gesagt. Aber an diesem Foto hab ich besonders gehangen, und ich kann es nicht wieder abziehen lassen, weil ich kein Negativ besitze.«
»Wird erledigt.« Claire schaltete die Sprechanlage aus.
Etwas durcheinander nahm Scott wieder Platz und fuhr sich mit den Händen unbewusst an die Hüfte. In letzter Zeit hatte es in der Klinik einige Probleme mit kleineren Diebstählen gegeben: Aus unbeaufsichtigten Handtaschen war Geld verschwunden, aus offenen Garderoben Kleidung entwendet worden. Das Klauen hatte so lange angehalten, bis man schließlich zwei Leute vom Putzpersonal dingfest gemacht hatte. Einige der vermissten Dinge waren in ihren Spinden wieder aufgetaucht. Allerdings begriff Scott nicht ganz, was irgendjemand mit einem Foto anfangen sollte - bis ihm wieder einfiel, dass der Messingrahmen eine Antiquität und kostbar war. Aber warum fehlte dann nichts anderes?
Mit einem letzten skeptischen Blick auf die Zeichnungen verstaute er sie in einer der oberen Schreibtischschubladen. Danach rief er bei Steve Franklin an.
12
Als Scott am späten Nachmittag die letzten der längst überfalligen therapeutischen Abschlussberichte diktierte - es hatte sich jede Menge angesammelt meldete sich seine Vorzimmerdame über die Gegensprechanlage. »Ein Anruf für Sie, Doktor, die Hämatologie.« Ehe Scott den Anruf entgegennahm, ließ er sich einen Moment Zeit, weil er seine Beine in eine bequemere Position bringen wollte. Vorhin hatte Steve Franklin seine Hüfte geröntgt und untersucht und ihm mitgeteilt, die Gelenkkapsel sei im Kern geschädigt. Nichts Ernstes, aber, wie Scott schon vermutet hatte, eine Sache, die sich im Laufe der kommenden Jahre immer wieder bemerkbar machen würde - höchstwahrscheinlich sogar sein Leben lang. Steve hatte ihm einige starke Schmerztabletten und das Rezept für ein entzündungshemmendes Mittel mitgegeben, das Scott in der Klinikapotheke eingelöst hatte. Anschließend war er in sein Büro zurückgekehrt und hatte sich darangemacht, einige der trockenen, langweiligen Dinge aufzuarbeiten, für die er unter der Woche normalerweise kaum Zeit fand. Meistens musste er einen Teil seiner Freizeit darauf verwenden.
Während er den Hörer abnahm und sich meldete, fischte er die Zeichnungen aus der Schublade und breitete sie vor sich auf dem Schreibtisch aus. An den Stellen, wo der Laborant den Farbstoff weggekratzt hatte, waren die bösartigen Augen des Ungeheuers auf dem Seegrund weiß und leer.