»Hallo, Dr. Bowman, Mike von der Hämatologie. Es ist tatsächlich Blut.« »Menschliches? «
»Ja, menschliches, Blutgruppe A negativ.« »Danke, ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.« Während er auflegte, machte sein Herz einen Satz und klopfte unruhig. Der Alte hatte die Blutgruppe Null negativ, das hatte er seinem Krankenblatt entnommen, ehe er Steve Franklin konsultiert hatte. Wenn es nicht sein eigenes Blut ist, wessen dann ? Als Scott unwillkürlich die immer noch verbundene Kuppe seines rechten Zeigefingers berührte, wurde es ihm schlagartig klar.
Er griff in die Hüfttasche, kramte die Brieftasche hervor, ging die Plastikfächer durch, zog die Karten heraus und ließ sie eine nach der anderen auf die Schreibtischplatte fallen - die ärztliche Zulassung, den Mitgliedsausweis der kanadischen Ärztevereinigung, Visa, American Express. Schließlich fand er, was er gesucht hatte: eine hellblaue Karte mit leichten Eselsohren. Die hatte er vom Roten Kreuz bekommen, als er einmal (und nie wieder) Blut gespendet hatte. Darauf waren Name, Adresse und Blutgruppe vermerkt: A negativ.
Es war verrückt - beinahe zu verrückt, um ernsthaft darüber nachzudenken aber nach kurzer Zeit glaubte Scott zu wissen, was geschehen war. Er hatte einiges über das Paranormale gelesen (selbstverständlich mit dem belustigten Interesse des Skeptikers, dennoch waren ihm ein paar Grundregeln bekannt) und zwei, drei der besseren Filme gesehen, die sich mit hellseherischen Gaben und ähnlichen Dingen befassten. In der Regel musste irgendein physischer Kontakt zwischen dem Medium und seiner Versuchsperson hergestellt werden. Häufig geschah das durch etwas so Einfaches wie das Berühren der Hände. Falls etwas daran war, würde Blut sicher dieselbe Wirkung erzielen, oder? Nachdem er sich den Finger an einem Blatt des Alten geschnitten hatte, war es dem Zeichner offenbar gelungen, sich etwas von diesem Blut zu sichern. Es hatte als Verbindung zwischen ihnen gedient. Und der Alte hatte damit die Augen auf der Skizze koloriert. Das Blut erklärte auch, warum er sich an diesem Tag nicht auf einen der Studenten, sondern auf Scott konzentriert hatte.
Während er am Schreibtisch saß und sich bemühte, der Sache auf den Grund zu gehen, merkte Scott mit leichtem Schrecken, dass er von jetzt auf nachher zu jemandem geworden war, der an Präkognition glaubte. Wenn er dieses Phänomen als gegeben nahm, musste er, was den Alten betraf, völlig umdenken. Als ihm das klar geworden war, ertappte er sich dabei, dass er in Gedanken alles, was er bislang als unstrittige Tatsachen betrachtet hatte, einer Prüfung unterzog. Er ging sogar so weit, seine ganze bisherige Vorstellung von Realität in Frage zu stellen. Wenn es so etwas wie Präkognition gab - und inzwischen war er davon fest überzeugt -, welche wunderbaren Dinge (oder Schrecken) mochten dann noch existieren, knapp außerhalb der Reichweite des normalen menschlichen Begriffsvermögens? Wie viele der zahllosen anderen Dinge, die er sein Leben lang mit einem Lachen abgetan hatte, waren womöglich ganz real? Das gab ihm ein seltsames Gefühl, irgendwie so, als sei er aus der Spur geraten, von der Weltkugel gepurzelt und auf einem fremden Planeten gelandet. Einem Planeten, der der Erde zwar in jeder Hinsicht glich, sich aber dennoch in tief greifender, grundlegender Weise davon unterschied.
Scott spürte, wie sich seine Kehle vor Panik verengte. Dass irgendein Tattergreis sein Blut dazu benutzte, in die Zukunft zu sehen, war ja schon schlimm genug. Aber warum war der Alte dann auch noch so pervers gewesen, das Blut für die Zeichnung zu verwenden? Dieser Aspekt war es, der ihm wirklich unter die Haut ging und ihm zu schaffen machte.
Allerdings war da, abgesehen von allem anderen, eine Frage, die ihn auch weiterhin brennend interessierte. War der Zeichner tatsächlich nur ein Tattergreis, der den Verstand verloren hatte? Falls er wirklich so altersdement war, wie er wirkte, wie konnte er dann irgendeinen psychischen Strom anzapfen und daraus seine Visionen beziehen? War es nicht durchaus möglich, dass man, sofern man sich ernsthaft bemühte, zu dem Alten durchdringen konnte, vielleicht mit der Hilfe von Hypnose? Soweit Scott wusste, hatte das bisher noch niemand versucht. Traurig, aber wahr: In der Medizin hängte man denjenigen, bei denen man Altersdemenz vermutete, schnell das entsprechende Etikett um. Und wenn das erst einmal geschehen war, schenkte man den Betroffenen kaum noch Beachtung.
Seltsam erregt, verstaute Scott die Zeichnungen wieder, stand vom Schreibtisch auf und humpelte durchs Zimmer. Er würde versuchen, zu dem verrückten alten Zeichner durchzudringen, der Dinge sehen konnte, die eigentlich kein Mensch hätte sehen dürfen.
Er würde sich alle Mühe geben. Und falls er Erfolg hatte... dann gab es, bei Gott, einige Fragen, die nach Antworten verlangten.
Festgebunden am Rollstuhl, saß er ganz allein in dem schlecht beleuchteten Krankenzimmer, nahe am Fenster. Wie beim letzten Mal trug er ein Unterhemd und eine hellblaue Schlafanzughose - die typische Krankenhaustracht eines alten Mannes, die ihm jede Individualität zu nehmen schien. Seine Augen waren auf den Heizkörper gerichtet, während er das Klemmbrett auf den angewinkelten Knien balancierte.
Und er zeichnete. Scott konnte den Bleistift schon vom Gang aus hören: kratz, kratz ... kratz, kratz, kratz ...
Scott machte einen Schritt durch die Tür - und blieb wie angewurzelt stehen. Es war keine bewusste Handlung, er hatte seinem Körper nicht befohlen, innezuhalten, er hatte es einfach von sich aus getan. Eingerahmt von der Tür, blieb er stehen und gab dem Instinkt oder Reflex - was es auch gewesen sein mochte - nach, der ihn am Betreten des Zimmers gehindert hatte. All seine Sinne waren angespannt, wie er merkte. Er spürte, wie das Adrenalin durch seinen Körper schoss, so dass sich das Blut in seinem Hals staute und sein Atem sich heftig beschleunigte.
Seltsamerweise machte sich hier Scotts grundlegende physiologische Ausstattung bemerkbar. Was er gerade erlebte, war eine massive Reaktion auf die ganze Situation — etwas, das Laien als Flucht- oder Kampf-Instinkt bezeichnen. Es ist ein Instinkt, mit dem man völlig automatisch auf Gefahr oder Furcht reagiert, und er ist allen höheren Lebensformen eigen. Dieser Instinkt drängte ihn jetzt, sich entweder zur Wehr zu setzen oder auf der Stelle wegzurennen.
Aber warum? Welche Gefahr sollte ihm hier drohen?
Mit leicht benebeltem Kopf lehnte sich Scott an den Türrahmen. Das nicht verbrauchte Adrenalin erzeugte ein Schwindelgefühl. Erneut blickte er zu dem alten Mann im Rollstuhl hinüber, taxierte ihn, versuchte ihn im Licht der Vernunft einzuschätzen.
Oh, heilige Vernunft, dachte er und spürte einen Anflug von Verrücktheit, du trügerischste aller menschlichen Gaben. Er ist doch nur ein Schwächling von nicht mal einem Zentner. Du könntest ihm genauso mühelos das Genick brechen, wie du seinen Bleistift knickst...
Jetzt bewegte sich der Bleistift schneller über das Blatt, genau wie beim letzten Mal, als Scott in der Nähe gestanden hatte. Es klang wie ein raues, abgehacktes Flüstern. Angespornt von dem Geräusch, tat Scott einen weiteren Schritt vorwärts und stürmte dann fast ins Zimmer. Während er bis zum Rollstuhl vordrang und sich darüber beugte, musterte er das Blatt auf dem Klemmbrett. Aber es war nichts Besonderes darauf zu sehen, nur zwei oder drei makaber wirkende Friedhofsszenen — ziemlich durchgeknallt, aber nichts sagend.
Scotts Körper entspannte sich vor Erleichterung. Seufzend zog er einen Stuhl heran, setzte sich zwischen den alten Mann und den Heizkörper und versuchte, sich in das Blickfeld des Zeichners zu schieben. Ohne auf Scott zu achten, fuhr dieser fort zu skizzieren, während das Radio neben ihm krächzte und dröhnte.