»Hallo«, sagte Scott, um eine beruhigende, gleichmütige Stimme bemüht. Aber sein Mund war heiß und trocken, so dass die Worte nur schwer herauskamen. »Können Sie mich hören?«
Als sich der Blick des Alten im Zwielicht der Dämmerung fast unmerklich verlagerte, zuckte Scott zusammen. Wieder ertappte er sich dabei, wie er den Mann taxierte, wie einen Gegner fixierte, mit dem eine körperliche Auseinandersetzung unvermeidlich schien.
In physischer Hinsicht konnte der Alte ihm nichts anhaben. Seine hellseherische Fähigkeit war zwar eine unheimliche Gabe, bot aber allenfalls einen schwachen Ausblick auf die Zukunft, was ein ungewöhnliches, aber nicht unbekanntes Phänomen darstellte. Es war eine nicht kontrollierbare, nicht vorsätzliche Sache.
Warum dann diese blinde Angst? Warum hab ich dennoch das Gefühl, hier in größerer Gefahr zu schweben, als wenn ich die Eiger-Norwand ohne Seil erklimmen würde?
Scott versuchte es erneut: »Ich möchte, dass Sie mit dem Zeichnen aufhören und sich mit mir unterhalten«, sagte er so gelassen wie möglich. »Ich möchte, dass Sie mit mir reden. Ich weiß, dass Sie es können, das weiß ich wirklich. Warum hören Sie nicht mit dem Zeichnen auf und reden mit mir? Ich will Ihnen nichts Böses, Sie können mir vertrauen.«
Scott fuhr in diesem sanften, vortastenden, eintönigen Singsang fort, während er im Zwielicht das uralte Gesicht nach irgendeinem Zeichen des Begreifens absuchte - nach einem Blinzeln der Augenlider, einem verräterischen Zucken des Mundwinkels oder einer anderen, kaum wahrnehmbaren Veränderung, die zeigte, dass der Alte ihn verstand.
Oder aber verriet, dass der Zeichner ihm ganz bewusst etwas vormachte. Diese Möglichkeit versetzte Scott einen plötzlichen Schock. Seine Gedanken wanderten zum Abend seines Geburtstages zurück, zum Esstisch bei ihm zu Hause. Damals hatte er die Gesichter von Krista und Kath genauso forschend gemustert, allerdings nicht nach Zeichen des Verstehens, sondern der bewussten Täuschung gesucht.
War der Mann womöglich ein Simulant ? Es war eine verlockende, wenn auch nicht sonderlich plausible Erklärung für sein Verhalten, eine Möglichkeit, die er nicht allzu leichtfertig verwerfen durfte.
»Es gibt nichts, vor dem Sie Angst haben müssten«, sagte er leise, obwohl er bei diesem seltsamen kleinen Mann keine Angst spüren konnte, nicht die kleinste Spur von Angst. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Wir Arzte und Schwestern hier sind alles Fachleute, die Ihnen helfen möchten. Aber dazu müssen Sie auch selbst mitarbeiten, mit uns reden, uns an Sie heranlassen.«
An diesem Punkt hörte Scott auf und schob seinen Stuhl zum Heizkörper zurück. Blonde Zwillingsmädchen, die vierzehn Jahre alt sein mochten, waren soeben in der Tür aufgetaucht. Sie kicherten und halfen einem o-beinigen alten Herrn, der sich auf eine Gehhilfe stützte, ins Zimmer. Eine von ihnen nannte ihn Großpapa. Als die andere die Lampe über seinem Bettgestell anknipste, fiel das schwache, gelbliche Licht bis zum Gesicht des Zeichners herüber.
Im jetzt helleren Zimmer sah Scott erneut zu dem Künstler, der immer noch zeichnete und dabei sabberte. Wie hatte er auch nur für einen Augenblick annehmen können, er sei ein Simulant? Wahrscheinlich hatte er Gespenster gesehen, während er allein mit ihm im fast dunklen Zimmer gesessen hatte. Als er ihn jetzt betrachtete, kam er zu dem Schluss, es müsse wohl leichter sein, einen von Kaths Goldfischen zum Reden zu bringen.
Als die Zwillinge ihrem Großvater ins Bett halfen und Scott den Rücken zuwandten, griff er, einer plötzlichen Eingebung folgend, nach dem unentwegt kratzenden Bleistift. Er hoffte, den Künstler damit zu überrumpeln und vielleicht zum Reden zu bringen. Doch der Alte hielt mit überraschender Kraft am Bleistift fest, seine dürren Finger legten sich wie Stahlklammern um das Holz. Scott wusste zwar selbst nicht, warum, aber anstatt lockerzulassen, zerrte er daraufhin noch heftiger an dem Stift.
Die sonst so ziellos und leer blickenden Augen des Alten fixierten Scott mit jäher Wut. Seine Lippen zogen sich zurück, während tief aus seiner Brust ein dumpfes Grollen drang. Es klang wie das Knurren eines Raubtiers und bahnte sich seinen Weg nach oben, bis es drohend aus der Kehle kam.
Scott zog die Finger so schnell zurück, als habe er glühende Kohle angefasst. Seine Kehle war trocken, vergeblich versuchte er zu schlucken.
Jetzt war an dem Alten auch ein penetranter Geruch auszumachen, ein ätzender Gestank, der weit stärker war als der hier übliche. Scott war es gewohnt, dass es auf der Station für chronisch Kranke stets schlimm nach Fäkalien und Ammoniak roch. Aber diesen Gestank kannte Scott bislang nur von rolligen Katern, die miteinander kämpften - es war ein wilder moschusartiger, urzeitlicher Geruch.
Leicht hin und her schwankend, rappelte Scott sich hoch. Inzwischen beobachteten die Zwillinge, die ihren Großvater in die Mitte genommen hatten, ihn ebenso verwundert wie schockiert. Auf dem Gang kam eine Krankenschwester vorbei und blieb sprachlos in der Tür stehen.
Wieder starrte der Alte auf den unsichtbaren Punkt zwischen Klemmbrett und Heizkörper. Und zeichnete weiter, als sei Scott gar nicht anwesend und niemals hier gewesen.
»Hallo, hier Doktor Bowman. Bitte verbinden Sie mich mit Doktor Bateman.«
Scott war ins Schwesternzimmer am Ende des Korridors gegangen, um im Besprechungszimmer der Psychiatrie anzurufen. Die für neunzehn Uhr angesetzte Konferenz sollte in zehn Minuten beginnen. Gleich darauf war Bateman am Apparat. »Vince, hier ist Scott. Hören Sie, es ist mir leider etwas dazwischengekommen. Ich werd's nicht zur Konferenz schaffen.«
»Wie bitte? Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, Scott, schließlich leiten Sie die verdammte Sitzung. Lassen Sie mich jetzt nicht hängen!«
Scott spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Man würde von Bateman als Chef erwarten, dass er für Scott einsprang. Aber er handelte wie unter einem Zwang und wollte unbedingt weiter versuchen, zu dem Zeichner durchzudringen. Das Gerangel um den Bleistift hatte ihn nachhaltig beeindruckt: Der Mann war unglaublich stark. Noch vor kurzem hatte Scott Gewichte von mehr als neunzig Kilo gestemmt Und dennoch hatte er es nicht geschafft, dieser knotigen Faust den Bleistift zu entwinden.
Und dieses verzerrte Gesicht des Alten, dieses drohende Knurren ... Und die Augen ...
»Tut mir Leid, Vince, aber Sandra Dunphy von der Verwaltung wird ja sowieso die meiste Zeit reden. Ich hatte eigentlich nur vor, das Protokoll der letzten Sitzung durchzusprechen, und wollte den Rest ihr überlassen.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung, danach ein tiefer Seufzer. »Ich hasse es, unvorbereitet zu sein, Bowman, kann so was wirklich nicht ausstehen.« Bateman legte auf.
Immer noch leicht benommen, kehrte Scott ins Zimmer des Alten zurück. Auf dem Gang begegnete er den Zwillingen, die gerade aufbrachen. Sie musterten ihn argwöhnisch.
Das alte Gespenst war inzwischen in seinem Rollstuhl eingeschlafen. Das Klemmbrett steckte zwischen den mageren Oberschenkeln. Der Bleistift, um den der Alte noch vor wenigen Minuten wie ein aufgebrachtes Kind gerangelt hatte, baumelte locker in der schlaffen Hand. Die Augen des Schlafenden lagen tief in den Höhlen, waren aber nur halb geschlossen. Im Zwielicht glänzte das, was von den Augäpfeln zu sehen war, wie Zinn. Sein Atem ging leise und stoßweise. Der Großvater auf der anderen Seite des Zimmers lag still und friedlich in seinem Bett und schnarchte zufrieden. Die anderen zwei Betten waren nicht belegt.
Als Scott diesmal das Zimmer betreten hatte, war seine instinktive Reaktion nicht stärker gewesen als bei simpler Neugier. Während er das Gesicht des Alten beobachtete, langte er nach dem Bleistift, darauf gefasst, dass sich die magere, skelettartige Hand erneut darum schließen würde. Aber sie rührte sich nicht.
Scott nahm seine Beute an sich und musterte sie mit gewisser Ehrfurcht, obwohl es nur ein ganz normaler Bleistift war: ein sechseckiger HB mit Radiergummi und der blauen Aufschrift Castell. Gleich darauf streckte er die Hände nach dem Klemmbrett aus. Diesmal zuckte der Alte zusammen, aber das war auch schon alles. Scott packte das Brett und trat einen Schritt zurück.