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Der Künstler hatte seine jüngsten Werke unter einen Stoß leerer Blätter geklemmt. Nachdem Scott sie herausgezerrt hatte, steckte er dem Alten das Klemmbrett wieder zwischen die Schenkel und den Bleistift in die Hand. Die Zeichnungen nahm er mit, als er das Zimmer verließ. Noch auf dem Gang begann er damit, jeden Cartoon im flackernden Schein der Neonröhren sorgfältig zu inspizieren. Anfangs kam es ihm so vor, als hätten sie keinerlei realen Hintergrund.

Bis er sich die letzten Zeichnungen vornahm. Wie schon einmal, auf dem Seegrund, war es so, als greife eine eiskalte Hand nach seinem Herzen. Er war entsetzt.

Die ganze Serie bestand aus nächtlichen Szenen. Die erste Zeichnung zeigte die Gesamtansicht eines Friedhofs mit vielen Bäumen. Auf der zweiten fiel ein Grabstein auf: Zwei übereinander geschichtete Marmorquader stützten eine pyramidenförmige Stele, die von einem Kruzifix gekrönt wurde. Das Kreuz war beschädigt, ein Seitenarm sowie ein kleiner Teil des Kopfstücks fehlten. Die Inschrift, bis auf drei oder vier Buchstaben nicht lesbar, war in den unteren Marmorstein eingeritzt. Das Mondlicht fiel auf eine grässliche Hand im Vordergrund, eine verweste, gekrümmte Hand, die wie eine Klaue die flüchtig angedeutete Erde durchstieß. In der dritten Abbildung der Serie bahnte sich ein verrotteter, einäugiger Leichnam mit der Schulter den Weg aus der beengenden Grabstelle. Es war die klassische Horror-Szene eines Cartoons, allerdings so beängstigend realistisch gezeichnet, dass es Scott einen Moment lang so vorkam, als könne er den Gestank nach Moder und Verwesung riechen.

Die nächste Abbildung konfrontierte ihn mit einer weiteren unheimlichen Szene: Der Grabstein ragte darauf im Vordergrund auf; der Leichnam schlurfte auf eine niedrige Steinmauer zu, hinter der eine schmale Straße lag; auf einem Hügelkamm zeichnete sich ein knorriger, entlaubter Baum gegen einen übertrieben groß gemalten Mond ab; ganz links leuchteten auf der gewundenen Straße, noch recht weit entfernt, die Scheinwerfer eines Autos auf.

Die fünfte Abbildung zeigte den Leichnam, der die Arme wie Frankensteins Monster ausstreckte, mitten auf der von Mondlicht erhellten Straße. Von dem Wagen, der gerade die Steigung vor dem Friedhof erklomm, waren nur die runden Lichtkreise der Scheinwerfer zu sehen. Die folgende Zeichnung hatte eine ganz andere Perspektive: die vom Rücksitz des Wagens aus. Es waren zwei Köpfe von hinten zu erkennen - der Lockenkopf der Fahrerin und der des Kindes, vermutlich ein Mädchen, das neben ihr saß. Die Fahrerin hatte einen Arm vor ihr Gesicht gehoben. Direkt vor der Windschutzscheibe, von den grellen Scheinwerfern geblendet und wie erstarrt, stand der verweste Mann und winkte. Es war die Sekunde vor dem Zusammenstoß, der unvermeidlich erfolgen würde.

Die folgende Szene — sie vermittelte höchste Dramatik - war von einem Platz genau hinter der Fahrerin aus gezeichnet. Die Perspektive schloss den Beifahrersitz und die Windschutzscheibe mit ein. Jetzt krachte der Untote durch das Schutzglas, wobei ihm ein Teil des Kinns abgeschnitten wurde. Sein einziges totes Auge baumelte an der wurmzerfressenen Wange herunter. Das Kind, jetzt eindeutig als Mädchen zu erkennen, war außer sich vor Entsetzen und schrie. Der Mund war zu einem lautlosen Schrei aufgerissen, das Gesicht nur wenige Zentimeter von der toten Kreatur entfernt, die in einem Wirbel funkelnder Scherben durch die Frontscheibe brach.

Auf der letzten Zeichnung - sie traf Scott wie ein Schrapnell - stand der Wagen mit eingedrücktem Kühler an der Steinmauer. Im Hintergrund war zu sehen, wie sich der Untote in die Tiefen des Knochenackers zurückzog. Ein Arm hatte sich aus der Gelenkkapsel gelöst, so dass er in völlig unnatürlichem Winkel herunterhing. Das Wageninnere war pechschwarz, von seinen Insassen war nichts zu erkennen. Fast hörbar zischte Dampf auf und wich unter der Motorhaube hervor. Der Wagen war ein Volvo.

Mein Gott, nein, lass bitte nicht zu, dass es meine beiden sind! Bitte nicht meine beiden Frauen!

Scott streckte die Hände vor und fand schließlich die Wand, an der er sich abstützen konnte. Im Geiste hörte er wieder Batemans Worte: Wenn Sie nach einer einfachen Botschaft suchen, müssen Sie nur hinter die Tünche des Horror-Comics blicken ...

»Wachen Sie auf! Los, wachen Sie auf, Sie verdammter Mistkerl!«

Erneut stand er im Zimmer des Zeichners, schüttelte ihn und bemühte sich verzweifelt, ihn zu wecken. Aber der Alte hing weiter schlaff im Rollstuhl und reagierte nicht. Wären nicht die kaum hörbaren pfeifenden Atemgeräusche gewesen, hätte Scott ihn für tot gehalten.

»Kommen Sie schon«, flehte er. Sein beherrschtes Flüstern steigerte sich zum hysterischen Brüllen: »Los, los, machen Sie endlich die Augen auf!«

Er schüttelte den Mann noch heftiger und grub seine steifen Finger in dessen knochige Schultern. Doch der Kopf des Alten schwang nur locker hin und her, als sei sein Genick gebrochen.

»Reden Sie mit mir!«, schrie Scott ihn an. »Was hat das alles zu bedeuten? Ist das meine Frau? Meine Tochter? Was wird passieren?«

In diesem Moment eilte eine Krankenschwester ins Zimmer. Der Anblick, der sich ihr bot, konsternierte sie so, dass ihr Gesicht rot anlief. »Doktor Bowman!«, japste sie. »Was machen Sie denn da?«

Scott beachtete sie gar nicht. Inzwischen schüttelte er den Alten so heftig, dass die paar Zähne, die ihm verblieben waren, aufeinander schlugen.

Die Schwester fiel ihm in den Arm: »Doktor Bowman!!!« Sie rief es nicht, sondern brüllte es heraus, so laut sie konnte.

Scott ließ den Zeichner, der noch immer keinen Laut von sich gegeben hatte, widerstrebend los und zog sich torkelnd zurück. Ihm war schwindelig. Erst jetzt dämmerte ihm, dass er den Alten beinahe umgebracht hätte.

Im hinteren Teil des Zimmers jammerte der Großvater der Zwillinge wie ein einsamer Wolf auf der Suche nach Gefährten.

Nachdem die Krankenschwester Scotts Arm freigegeben hatte, blieben beide nebeneinander stehen, schwiegen betroffen und starrten auf den alten Mann. Sein Kahlkopf, von dem sich die Haut schälte, hing schlaff nach vorne. Aus den Mundwinkeln rann Speichel, tropfte auf das Hosenbein des Schlafanzugs und bildete dort dunkle Flecken.

Fluchtartig verließ Scott das Zimmer, die Faust um die Zeichnungen gekrallt. Während er durch die Außentüren der Station stürmte, um in sein Büro im zweiten Stock zurückzukehren, verfolgte ihn das klägliche Gejammer des Großvaters.

13

Erst beim sechsten Läuten des Telefons nahm Kristas Schwester Klara ab. »Klara, hier ist Scott.« »Hi...«

»Hör mal, sind Krista und Kath schon weg?« Er wusste zwar, dass sie bereits losgefahren sein mussten, hoffte jedoch inständig, dass irgendetwas Unvorhergesehenes sie aufgehalten hatte. Nach der Digitaluhr auf seinem Schreibtisch war es jetzt 19:12.

»Ja, schon seit heute früh. Deine Frau war mal wieder so gereizt wie üblich. Hat sich so aufgeführt, als wüsste sie alles besser, die kleine Klugscheißerin. Stimmt was nicht? Du klingst ziemlich fertig.«

»Tut mir Leid, Klara, aber ich hab jetzt keine Zeit für Erklärungen.«

Er trennte die Verbindung und wählte gleich darauf Carolines Nummer in Boston. Caroline nahm schon beim ersten Klingeln ab. »Scott? Hi!«

»Sind Sie schon da?«, platzte Scott ohne jede Einleitung heraus. »Krista und Kath?«

»Nein«, erwiderte Caroline knapp, da sie merkte, wie dringend Scott die Sache war. »Noch nicht. Was ist...?« »Scheiße.«

»Scott, was ist los? Ist bei dir alles in Ordnung?« Scott schwieg einen Augenblick, atmete schwer und versuchte sich zusammenzureißen. Er konnte Caroline unmöglich von der ganzen Sache erzählen - jedenfalls jetzt noch nicht. Es hatte keinen Sinn, sie noch weiter zu beunruhigen. Möglicherweise hatte das alles ja gar nichts mit seinen beiden Frauen zu tun, vielleicht hatte er einfach überreagiert. Sein Volvo war ja bei weitem nicht der Einzige im ganzen Land ...