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Er blieb auf dem Weg stehen, vergrub die Hände in den Achselhöhlen und blickte zum stürmischen Himmel hinauf. Die Wolken da oben waren voller Leben, segelten in großen Flotten, die einander Schlachten lieferten, auf dem aufgewühlten Meer des Windes dahin. Der Mond - fast schon zum Vollmond gerundet - schien sich gegen die Flut zu stemmen. Eine feuchte Brise streifte Scotts Gesicht und kündigte Regen an. Von seinem Standort aus konnte er den See zwar nicht sehen, doch er wusste, dass auch das Wasser von Leben wimmelte. Er konnte hören, wie es dort unten, in der schwärzlichen Tiefe, herumkroch ...

Fröstelnd eilte er ins Haus.

Als ihn die Dunkelheit der Diele umfing, blieb er erneut stehen und versuchte, das seltsame Gefühl abzuschütteln, das ihm das Haus vermittelte. Der Gang vor ihm weitete sich zum Wohnzimmer, das nur als verschwommener Schatten auszumachen war. Im Dunkeln kam es ihm so vor, als sei es irgendwie verändert worden. Unvermittelt hatte er das beängstigende Gefühl, nicht allein im Haus zu sein.

Und da bemerkte er sie; eine kleine, schwarze Gestalt, die sich dunkel von ihrer Umgebung abhob und an der nahen Wand lehnte. Fast wäre er gleich wieder aus der Tür gerannt. Stattdessen griff er nach dem Lichtschalter und sorgte dafür, dass die Hundert-Watt-Birne die Diele erhellte.

Sofort verwandelte sich die Gestalt an der Wand in Jinnie, Kadis Flickenpuppe. Leicht hysterisch lachte Scott auf. Mit ihren Stummelhänden und dem ausgepolsterten Mondgesicht kam ihm Kaths Puppe wie eine deformierte Liliputanerin vor, die gerade die Agonie des Verstrahlungstodes erlitt. Er konnte sich nicht erklären, was Kinder an dieser Puppe fanden, aber in den letzten Jahren waren Flickenpuppen wie warme Semmeln weggegangen. Kath liebte ihre Puppe, tat so, als sei sie ihr eigenes kleines Kind, und nahm sie sogar mit ins Bett. Scott nahm an, dass Kath Jinnie am Sonntagmorgen gegen die Wand gelehnt und dort vergessen hatte, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sie vorher hier gesehen zu haben. Er fragte sich, ob Kath sie vermisste.

Er hob die Puppe auf, klemmte sie sich unter den Arm und durchkämmte Zimmer für Zimmer, wobei er alle Lampen einschaltete, die er finden konnte. Heute Abend machte ihn die Dunkelheit nervös.

Schließlich setzte er sich, Kaths Puppe auf dem Schoß, auf einen Sessel am Mickymaus-Telefon im Fernsehzimmer und begann zu warten. Hin und wieder sah er durch die Schiebetür nach draußen, auf den See, in dem sich das Mondlicht spiegelte.

15

Kath war eingenickt. Das wunderte Krista, denn normalerweise musste Kath ihre Puppe Jinnie im Arm haben, ehe sie auch nur daran dachte, die Augen zu schließen. Lächelnd betrachtete Krista das Profil ihrer schlafenden Tochter. Mittlerweile häuften sich die unverkennbaren Anzeichen dafür dass Kath in die Pubertät kam. Dass sie ihre Puppe zu Hause vergessen hatte, war noch das mindeste. Meine Güte, sie entwickelte ja sogar schon Brüste und klagte über Krämpfe im Unterleib, die Krista daran erinnerten, dass sie selbst auch zu den Frühreifen gezählt hatte. Wenigsten war sie schon zwölf Jahre alt gewesen, als das alles losging - aber mit zehn?!

Kristas Laune wurde endlich wieder besser, wie sie selbst merkte. Am Vorabend, bei ihrer Schwester, war sie trübsinnig und unterschwellig auch wütend gewesen. Und diese Stimmung war heute am frühen Nachmittag in heftige Wut umgeschlagen, als sie gemerkt hatte, dass sie irgendwo in den Waldwegen der White Mountains gelandet waren und sich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Holzweg befanden. Sie hatte sich selbst versprochen, sich auf dieser Reise von Klara auf keinen Fall provozieren zu lassen, aber dieses Versprechen hatte sich als nutzlos erwiesen.

Wie ihre Mutter war Klara jemand, der über alles und jedes herzog. Mit dieser ablehnenden Haltung reagierte sie auf alles, was ihr begegnete. Und ein Lieblingsziel ihrer Angriffe war Scott, den sie bei jeder Gelegenheit nach Kräften schlecht machte. Krista war zwar klar, dass die Hasstiraden ihrer Schwester vor allem vom Alkohol beflügelt wurden, dennoch führten Klaras rohe und unbegründete Attacken unvermeidlich dazu, dass sie selbst in die Defensive geriet. Am Sonntagabend hatte Krista versucht, ihrer Schwester ausführlich davon zu erzählen, wie Scott beinahe ertrunken wäre. Hauptsächlich auch deshalb, um ein wenig von der Spannung abzubauen, die sich bei ihr selbst aufgrund dieses Erlebnisses angestaut hatte. Doch Klara war ihr schon nach wenigen Sekunden mit ätzenden Bemerkungen ins Wort gefallen.

»Willst du damit sagen, dass dieser Seelenklempner von Ehemann mit einem Kater tauchen gegangen ist? Mein Gott, was hast du doch für einen verantwortungslosen Mistkerl geheiratet. Und was erwartet er von dir und deinem Kind, während er auf dem Seegrund Entenmuscheln sammelt?« Wütend starrte sie Joe an. »Wenn mein Mann jemals Lust hätte, eine solche Nummer abzuziehen, würde ich ihn glatt umbringen.«

Krista, die angespannt und zornig war und gleichzeitig Mitleid mit ihrem Schlappschwanz von Schwager empfand, entschuldigte sich früh und ging zu Bett. Ruhelos warf sie sich die ganze Nacht hin und her und stand am Morgen schon eine Stunde vor dem Hahnenkrähen auf - ehe Klara Gelegenheit hatte, sie erneut in die Mangel zu nehmen. Flüsternd verabschiedete sie sich von Joe, ließ einen Zettel für ihre schnarchende Schwester da und scheuchte Kath hoch, noch ehe sie ihren Frühstückstoast aufgegessen hatte. Die Erleichterung darüber, dass ihre Flucht so glatt verlaufen war, und der viel versprechende blaue Himmel gaben ihr Hoffnung, dass ihre Reise trotz allem doch noch gut verlaufen würde.

Die Auseinandersetzung mit ihrer Schwester war schon schlimm genug gewesen, doch so zwangsläufig, als braue sich langsam ein Sturm zusammen, sollte es bald noch viel schlimmer kommen. Der Zollbeamte an der Grenze war offenbar mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden und ganz scharf darauf, sie zu drangsalieren. Eine gute halbe Stunde verbrachte er damit, sich über den geöffneten Kofferraum des Volvo zu beugen und jedes einzelne Gepäckstück zu durchwühlen, das er finden konnte. Zurück blieb ein wildes Durcheinander. Zehn Minuten, nachdem sie die Landesgrenze nach Vermont überquert hatten, hielt sie ein Polizist wegen Verstoßes gegen die Geschwindigkeitsbeschränkung an und zwang sie, mit ihm zusammen mehr als zehn Kilometer zurück zur Polizeiwache irgendeiner kleinen Stadt zu fahren, damit sie dort die Geldbuße zahlte. Kurz vor Montpellier ging ihr das Benzin aus. Danach zeigte ihr ein erboster Tramper den Stinkefinger. Und auf der Terrasse vor dem McDonald's in Barre ging eine mordlustige Seemöwe im Sturzflug auf sie los.

Aber der Gipfel aller Katastrophen sollte erst noch kommen, nachdem sie die Stadtgrenze von Lincoln in New Hampshire passiert hatten.

»Eh, Mom, ich glaub, wir hätten da hinten rechts statt links abbiegen müssen«, meldete sich Kath. Es war eine Feststellung, in der ein vorwurfsvolles »Hab-ich's-dir-nicht-gleich-gesagt?!« mitschwang.

Kath, die auf die Straßenkarte des Automobilclubs gesehen hatte, hatte es ihr tatsächlich rechtzeitig gesagt. Trotzdem war Krista links abgebogen, eigentlich ohne jeden einleuchtenden Grund. Es war ihr einfach ... richtig vorgekommen, so, als habe es sich von selbst ergeben. Erst später war ihr aufgefallen, dass sie sich recht seltsam verhalten hatte. Denn von Natur aus war sie doch gar nicht so impulsiv, schon gar nicht, wenn sie ein bestimmtes Ziel hatte. Sicher, sie hatte den abrupten Wechsel des Straßenzustands bemerkt: Die Asphaltdecke wies hier alle möglichen Risse auf und sah verblichen aus. Dabei hatte sie an die von der Sonne verbrannten Lehmbrocken denken müssen, mit denen sie als Kind auf dem Kartoffelacker von Onkel Albert gespielt hatte. Und die Straßen wurden jetzt auch schmaler. Aber die Umgebung hatte so heimatlich gewirkt. Die peinlich sauberen Bauernhöfe und kultivierten Felder hatten sie an Neufundland erinnert, wo sie geboren war.