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Doch nach fünfundzwanzig oder dreißig Kilometern hatte der Asphalt plötzlich aufgehört, einfach so. Die unbefestigte Landstraße, die hier begann, war nur noch am Rand betoniert Rechts wurde sie von Ansiedlungen gesäumt, links von einem Weg für Dinosaurier oder sonstige Urviecher. Nachdem sie eine halbe Stunde auf dieser Straße geblieben waren, hatte Kath vorgeschlagen, einfach umzudrehen. Aber Krista hatte wieder nicht auf sie gehört, sondern war weitergefahren. Aus zwei Gründen: Zum einen hatte sich die Straße mehr als ein dutzend Mal geteilt, ohne dass an irgendeiner Abzweigung ein Hinweisschild aufgetaucht wäre - und das bedeutete, dass die Chance, bald wieder auf eine Stadt zu stoßen, gleich Null war. Zum anderen widersprach das Umkehren ihrem Naturell. So etwas hatte ihr noch nie gelegen. Manchmal war das auch gut so ... aber längst nicht immer.

Es dauerte nicht lange, da hatten sie vierzig oder mehr Kilometer ins Nirgendwo zurückgelegt. Krista nahm an, dass sie sich irgendwo südlich von Mount Hancock befinden mussten, einem mehr als dreizehnhundert Meter hohen Berg, der auf der Straßenkarte nur als winziges Dreieck verzeichnet war. Mit knapp fünfundzwanzig Stundenkilometern krochen sie auf einem vom Rinnsalen und Schlaglöchern durchzogenen Feldweg dahin, der links und rechts von Bäumen gesäumt wurde. Bäume, nichts als Bäume, deren Kronen einander berührten, deren Laub sich miteinander verschränkte, so dass sie wie durch einen Tunnel fuhren. Auf beiden Seiten setzten sich die Baumreihen bis ins Endlose fort. An manchen Stellen sah es so aus, als könnten sie die Weiterfahrt blockieren. Hin und wieder brachen die Strahlen der Spätnachmittagssonne durch den Tunnel, aber alles in allem wirkte die Atmosphäre düster.

Sie hatten jede Orientierung verloren.

Allerdings ließ sich Kath davon nicht aus der Fassung bringen, das war nicht ihre Art. Genau wie ihr Vater sah sie fast jede Situation von der Sonnenseite her. Sie schob ein Band ins Kassettendeck: Thriller dröhnte los und machte der Stille ein Ende. Das Video in Kaths Kopf spulte die Szene ab, in der Michael Jackson über einen von Nebel verhangenen Friedhof stolziert und Vincent Price mit seinem legendären Bass Unheil und Verderben prophezeit. Kath, Zeit ihres jungen Lebens ein Jackson-Fan, ließ die Glieder zucken und vollführte einen Breakdance, wenn auch nur mit den Beinen.

Sie fuhren weiter und weiter, nie schneller als fünfzig. An manchen Stellen bremste Krista so scharf ab, dass die Reifen quietschten und der Volvo fast zum Stehen kam. Die laute Musik machte ihr nichts aus - sie dämpfte das metallische Scheppern und Knirschen des Fahrgestells.

Die Straße, sofern man überhaupt von einer Straße sprechen konnte, war wirklich schlimm.

Kath hielt nach Tieren Ausschau und ließ ihren Blick von einer Seite zur anderen schweifen. Vorhin hatte sie ein paar Kaninchen entdeckt, außerdem ein Rehkitz, das noch wacklig auf seinen Beinen stand.

»He, Mom, is' doch toll hier, nich'?«, schrie sie so laut, dass sie die Musik übertönte.

Krista nickte und dachte bei sich: Tja, wirklich toll Völlig orientierungslos am Arsch der Welt. Müde und gerade dabei, den Wagen deines Vaters zu Schrott zu fahren. Wirklich zum Totlachen, Mädchen.

Nach weiteren zwanzig Minuten - sie hatten nicht einmal zehn Kilometer hinter sich gebracht - entdeckte Kath in einer sonnigen Lichtung einen Mann, der gerade frisch gefällte Baumstämme auf den Anhänger eines kleinen, roten Traktors lud. Auf einem der Kotflügel lag eine Kettensäge, die im Sonnenschein funkelte.

»Sieh mal, Mom, da drüben.« Kath deutete auf die Lichtung.

Krista bremste ruckartig ab und hielt sofort an, denn es kam ihr so vor, als habe sie gerade den letzten Überlebenden auf dem Planeten Erde gesichtet. Der Waldmensch richtete sich auf, wischte sich die Hände an den Hosenbeinen seines Overalls ab und wandte sich der Straße zu. Gleich darauf stieg Krista aus und ging mit steifen Beinen zur anderen Wagenseite hinüber. Dabei stellte sie fest, dass der Autolack mit einer dicken, grauen Staubschicht überzogen war.

»Entschuldigen Sie«, rief sie ins Gehölz hinein und schwenkte die Hand über dem Kopf. Der Mann winkte zurück und stapfte durch das Unterholz auf sie zu. Plötzlich schüchterte seine enorme Größe Krista ein.

»Ja, Ma'am?«, fragte er fast unterwürfig, während er mit sicherem Schritt die Böschung erklomm. Sein Grinsen wirkte sympathisch und freundlich, außerdem war er jünger, als Krista ursprünglich gedacht hatte. Aus der Nähe betrachtet sah er nicht älter als achtzehn oder zwanzig aus. »Was kann ich für Sie tun?« Er zog ein blaues Halstuch aus der Hüfttasche, rieb sich damit über die Stirn und steckte es wieder weg. »Ham Se sich verfahr'n?«

»Tja, bin vorhin, nahe bei Lincoln, falsch abgebogen.«

Sein Mund verzog sich zu einem noch breiteren, wissenden Grinsen. »Passiert oft. Wohin woll'n Se denn?«

»Na ja, eigentlich nach Boston, aber im Augenblick wär ich schon froh, wieder auf die Hauptstraße zu kommen.« Über die Schulter sah sie zu dem Feldweg hinüber, auf dem sie zuletzt gefahren waren. »Oder überhaupt auf irgendeine richtige Straße.«

»Teufel noch mal, is' doch 'ne leichte Übung.« Er wandte sich halb um und deutete irgendwohin. Dabei nahm er sein Ziel so ins Visier, als sei der ausgestreckte Arm ein Gewehrlauf. »Fahrn Se einfach aufm Weg weiter, den Se gekommen sind. Nur müssen Se sich rechts halten, wo der sich gabelt. Dann sind Se in Null Komma nix wieder auf der gepflasterten Straße.« Immer noch grinsend trat er einen halben Schritt näher. »Sind Se aus Kanada?«

»Ja«, erwiderte Krista und wich zur Fahrerseite des Volvo zurück. »Stimmt genau.«

Als die solide Breite der Motorhaube zwischen ihnen lag, war ihr schon wohler. Jetzt grinste der Typ Kath an, die immer noch auf ihrem Sitz herumhopste. Das Fenster war geschlossen. Der Bursche wirkte zwar durchaus freundlich ... Aber er roch schlecht und war einen ganzen Kopf größer als Scott, der immerhin auch gut einen Meter fünfundachtzig maß. Und seine Augen wirkten irgendwie seltsam. Sie wanderten allzu häufig hin und her, und eines war so nach außen gedreht, als spähe er heimlich auf einen Punkt in ihrem Rücken. Kristas Fantasie neigte dazu, mit ihr durchzugehen.

Schließlich hatte sie den Film The Texas Chainsaw Massacre noch gut in Erinnerung. Falls sich dieser Bursche in den Kopf setzen sollte, sie beide in den Wald zu schleppen, würden sie kaum eine Chance zur Flucht haben - Aerobics hin oder her.

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte sie und ließ sich schnell auf den Fahrersitz gleiten. »Schönen Tag noch.« Insgeheim war ihr diese Phrase zwar zuwider, aber hier schien sie ihr angebracht.

Er kramte erneut das Halstuch hervor und wischte sich nochmals über die Stirn. »Wünsch ich Ihnen auch, Ma'am. Und denken Se dran: bei der Gabelung rechts halten.«

Während Krista losfuhr, beobachtete sie ihn im Rückspiegel. Er blieb noch einen Augenblick stehen, um ihnen nachzusehen, dann steckte er das Halstuch weg und machte sich auf den Rückweg zum Traktor.

Die Safari zu den baumreichen Ausläufern der White Mountains hatte sie gute drei Stunden gekostet. Um die Zeit wieder hereinzuholen, verzichteten sie darauf, zum Abendessen anzuhalten. Stattdessen knabberten sie beim Fahren ihre Brote, die mit Käse, Tomaten, Schinken und Salatblättern belegt waren.

Nach der Uhr am Armaturenbrett war es inzwischen 22.00 Uhr. Krista war klar, dass Caroline mittlerweile schon auf sie warten würde, aber sie waren immer noch auf der 122, gut vier Stunden von Boston entfernt. Sie hatte kurz überlegt, ob sie anhalten und nach einem Telefon suchen sollte, aber sie rechnete mit Carolines Verständnis, denn sie und ihre Halbschwester waren sich recht ähnlich.

Während sie durch die hereinbrechende Nacht fuhr und Kath leise neben ihr schnarchte, dachte sie voller Liebe an Scott. Nach dem Schrecken, den er ihr am Samstagmorgen eingejagt hatte, war ihr deutlich bewusst geworden, wie viel er ihr bedeutete, wie sinnlos ihr Leben - abgesehen von ihrer Liebe zu Kath - ohne ihn wäre. Scott kannte seine Frau in- und auswendig und liebte sie wahnsinnig, daran hegte sie keinerlei Zweifel. Die gesamten zehn Jahre ihrer Ehe hindurch hatte er sie sozusagen auf Händen getragen.