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Danach ging er zu dem kleinen Kellerkühlschrank hinüber, fischte das letzte Sixpack Bier heraus und kehrte zu seinem Platz am Telefon zurück. Nachdem er eine Dose aufgerissen und sie mit einem einzigen wohltuenden Schluck geleert hatte, erfasste ihn unverzüglich ein leichtes Schwindelgefühl.

Es war noch nicht so spät, dass Krista nicht mehr hätte anrufen können. Es konnten hundert harmlose Dinge dazwischen gekommen sein und er wusste nur allzu gut, dass Krista sich von ihrem Ziel durch nichts abbringen ließ, wenn sie sich etwas Bestimmtes in den Kopf gesetzt hatte. Wenn sie jetzt mit ihrer Tochter nach Boston fuhr, dann tat sie genau das, mochte kommen, was da wolle. Und nichts, wenn nicht gerade ein Wirbelsturm oder eine nukleare Katastrophe, würde sie daran hindern.

Als er an Kristas - manchmal enorme - Willensstärke dachte, musste Scott trotz all seiner Sorgen und Ängste lächeln. Während der Jahre seiner Facharztausbildung war es Kristas Stärke gewesen, die ihn mehr als einmal davor bewahrt hatte, den ganzen verdammten Bettel einfach hinzuschmeißen. Krista war eine Kraft an sich; selbst in ihrer Abwesenheit ließ sich ihre Präsenz nicht leugnen. Das ganze Haus strahlte ihre Berührung, ihren Geschmack, ihr Wirken aus.

Während Scott die zweite Dose Bier aufriss, ertappte er sich dabei, dass seine Gedanken unwillkürlich zu dem Tag zurückwanderten, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war.

Er war damals seit genau drei Wochen in Sandy Point, Neufundland gewesen und hatte sich gerade erst in Doktor Friths Praxis für Allgemeinmedizin eingearbeitet. Scott war für Frith eingesprungen, nachdem der praktische Arzt einen zweiten Herzinfarkt erlitten hatte. Wie der erste Infarkt war auch der zweite recht glimpflich verlaufen, aber der alte Hausarzt hatte ihn als Warnzeichen betrachtet und sich dafür entschieden, sechs Monate zu pausieren. Scott, der darauf aus war, sich eine kleine finanzielle Reserve anzulegen, ehe er sich spezialisierte, war im hinteren Teil einer Ärztezeitschrift, der Zeitschrift der Kanadischen Ärztevereinigung, auf Friths Anzeige gestoßen und hatte sich beworben. Wie sich herausstellte, war seine Bewerbung die einzige gewesen.

Frith führte seine Praxis nach einem einfachen System: Er hatte zwei Untersuchungs- und Behandlungsräume, zwischen denen er hin- und herpendelte. Seine Arzthelferin, eine Teutonin namens Eva Underhoffer, mit der nicht zu spaßen war, sorgte dafür, dass die Praxis wie eine gut geölte Maschinerie lief. Scott musste nur von einem Raum zum anderen wechseln, um dort einen neuen Patienten lächelnd und auf ihn wartend vorzufinden - das Wiegen und die Urinproben waren bereits erledigt.

An diesem Tag hatte die Arzthelferin, nachdem sie eine ältere Diabetikerin gewogen hatte, Scott beiseite genommen und ihn in ihrem schroffen, überheblichen Ton angekündigt, er werde seine nächste Patientin vielleicht als »ein wenig unangenehm« empfinden - wie die Underhoffer es in der ihr eigenen diskreten Terminologie auszudrücken beliebte. Es handle sich um ein junges Mädchen (einen »Hie-ppy«), das in »andere Umstände« geraten sei und jetzt nach einem Ausweg suche. Auf solche Ansinnen konnte die Underhoffer nur mit finsteren Blicken und eifernder Selbstgerechtigkeit reagieren.

Flankiert von der Arzthelferin, deren Waden ihn an Fässer erinnerten, hatte sich Scott in Raum 2 begeben und dort Krista Draper, damals noch Teenager, vorgefunden. In ein Laken gehüllt, hatte sie auf dem Untersuchungstisch gesessen und war bei seinem Anblick heftig errötet. In dieser Anfangszeit war Scott sowieso stets nervös gewesen, als Arzt noch ein Grünschnabel, der mit einem Kopf voll auswendig gelernter Fakten samt einer schwarzen Tasche voller Unerfahrenheit durch die Gegend taumelte. Aber irgendetwas an diesem Mädchen hatte ihn sofort umgehauen. Nichts, das er damals mit einem Namen hätte belegen können. Vielleicht war es etwas in diesen großen, gletscherblauen Augen, in ihrem forschenden, aufgeweckten Blick. Was immer es auch war, jedenfalls ertappte er sich plötzlich dabei, dass er einen trockenen Mund hatte, stotterte und kaum in der Lage war, die Arzt-Patienten-Farce durchzuziehen. Wäre er impulsiver (und sehr viel weniger professionell) gewesen, hätte er vielleicht gesagt: »He, wie wär's, wenn wir beide in die Stadt gehen, uns ein Eis holen, ein bisschen auf der Mole entlangschlendern und diese ganze Sache mit der Abtreibung wie zwei vernünftige Erwachsene durchsprechen.« Stattdessen hatte er all die Fragen gestellt, die von ihm erwartet wurden, auf ihrer Karteikarte Notizen eingetragen (Frith hatte die Karte peinlich genau alle achtzehneinhalb Jahre ihres Lebens hindurch geführt) und sie anschließend untersucht.

Und dieses eine Mal war Scott tatsächlich froh gewesen, dass er Friths dicke, übereifrige Arzthelferin dabei hatte. Der stählerne Blick aus ihren nordischen Augen hatte dafür gesorgt, dass er sich überaus professionell verhielt. Dennoch hatte er Notiz von diesem Mädchen genommen, von ihrer glatten, olivbraunen Haut, von dem dichten Schamhaar, von der Wärme, in die seine behandschuhten Finger eintauchten. Später hatte er Ekel vor sich selbst... und dennoch eine seltsame Hochstimmung empfunden.

Als sie sich ein paar Tage später zufällig trafen, geisterten beide aus ganz unterschiedlichen Gründen abends auf der Mole herum: Scott sehnte sich nach einer Familie und seinem Zuhause und wägte das Für und Wider einer Zusatzausbildung zum Facharzt ab; Kristas Gedanken schwankten zwischen Abtreibung und Selbstmord hin und her. Bei der Vorstellung, dass Krista seine völlig unangemessene Erregung im Untersuchungszimmer der Frith'schen Praxis wahrscheinlich bemerkt hatte, war Scott vor Verlegenheit rot geworden. Aber Krista war in ihre eigenen turbulenten Gedanken versunken gewesen, fast hätte sie ihn jetzt nicht wiedererkannt.

Als er auf Krista stieß, saß sie auf dem zerfallenden Ausläufer der Mole, hatte den Blick verträumt in die Ferne gerichtet und musste auf jeden, der sie dort sah, wie eine wunderliche Gestalt aus vergangenen Jahrhunderten wirken, die darauf wartete, dass das Schiff ihres Geliebten in der Dünung auftauchte. An diesem Abend hatte sie sich mitten in einem qualvollen Übergangsstadium befunden. In den letzten Wochen war sie durch die harte Schule heftiger Nackenschläge gegangen und vom Mädchen zur erwachsenen Frau gereift. Schließlich endete es damit, dass Scott sie in die Arme nahm und tröstete. Als es später in Strömen regnete, küsste er sie, strich ihr über das nasse Haar und flüsterte, es werde schon alles gut werden. Noch ehe er die Mole verließ, war er bis über beide Ohren verknallt. Nachdem er sie nach Hause gebracht hatte und zu seiner engen Koje in der Klinik zurückgekehrt war, hatte er stundenlang mit einer Art Phantomschmerz im Herzen wach gelegen.

Sieben Monate später, Kristas Bauch war inzwischen auf die Größe eines Basketballs angeschwollen, heirateten sie. Einen Monat später kam das Kind auf die Welt, das sie Kathleen Marie tauften.

Auch darüber hatte Scott seit Jahren nicht mehr bewusst nachgedacht: über die Tatsache, dass er nicht Kaths leiblicher Vater war. Anfangs, ehe Kath geboren war, hatte das an ihm genagt. Aber selbst damals war ihm klar gewesen, dass dieses Nagen vor allem mit seinem eigenen, ach-so-empflndlichen Ego zu tun hatte. Ein anderer Mann war mit dem Mädchen, das er liebte, zusammen gewesen, ein anderer Mann war in sie eingedrungen. Krista, die seine Empfindungen spürte, versicherte ihm, es sei nur eine einmalige Sache gewesen, mit einem Jungen, in den sie die ganzen letzten Schuljahre hindurch verschossen gewesen sei. »So was kann auch nur mir passieren«, hatte sie an jenem Abend auf der Mole gesagt. »Ich probier's ein einziges Mal - und schon bin ich schwanger.«

Aber als Kath erst einmal auf der Welt war und ihn mit ihrem niedlichen, runden Gesicht zu verzaubern begann, hatte er sich erneut bis über beide Ohren verknallt. Kath war ganz und gar seine Tochter. Wehe jedem Mann, der sich erdreisten sollte, das in Frage zu stellen.

Als das Telefon im Fernsehzimmer schrillte, fuhr Scott wie in einem Krampf zusammen. Kaths Puppe rollte von seinem Schoß auf den Fußboden, wo sie mit dem Kopf nach unten als formloses Stoffbündel landete. Mit einem Satz schnappte er sich den Hörer, der in der Hand der Mickymaus klemmte.