»Hallo?«
»Dr. Bowman?«
Es war Vince Bateman. Angesichts der Uhrzeit und der Situation war Scott über diesen Anruf ebenso erstaunt wie verärgert.
»Ich weiß, es ist schon spät«, sagte Bateman, ohne Scotts Antwort abzuwarten, »aber ich habe gerade ...«
»Hören Sie, Vince«, unterbrach ihn Scott, »ich verstehe ja, dass Sie wegen der Besprechung sauer sind. Tut mir Leid, aber ich kann mich im Augenblick nicht damit befassen. Ich erwarte nämlich einen wichtigen Anruf und muss die Leitung freihalten.«
»Um die Besprechung geht's aber gar nicht«, erwiderte Bateman. »Außerdem ist sie trotz Ihrer Abwesenheit bemerkenswert gut gelaufen. Ich rufe Sie in meiner Eigenschaft als Stationschef an, Scott. Was ich eigen dich sagen wollte, ist Folgendes: Gerade eben hat mich die Aufsicht auf der anderen Leitung informiert, dass Sie am frühen Abend eine ziemliche Szene hingelegt haben, eine Szene bei unserem medial veranlagten Patienten. Stimmt das?«
»Ja, aber ...«
»Was, zum Teufel, geht hier vor, Scott?« In Batemans Stimme schwang ein offener Vorwurf mit. »Nach dem, was die Schwester sagt, hätten Sie den alten Mann ernsthaft verletzen können. Ein solches Verhalten macht sich gar nicht gut, mein Freund. Was läuft da schief? Stehen Sie vielleicht unter übermäßigem Stress?«
Als er jetzt darüber nachdachte, musste Scott zugeben, dass es tatsächlich nach einer schlimmen Szene ausgesehen haben musste. Und es stimmte auch - er hatte es selbst gemerkt, als die Schwester ihn daran gehindert hatte, den Mann weiter zu schütteln dass er den Alten, gebrechlich wie er war, um ein Haar ernsthaft verletzt hätte.
Dennoch merkte Scott, wie ihn Batemans herablassender Unterton zur Weißglut brachte. Ganz abgesehen davon, dass er dieses Gespräch jetzt nicht führen wollte.
»Wir sprechen ein andermal darüber, einverstanden, Vince?«
»Ich hätte nicht angerufen, wenn ich die Sache nicht für wichtig gehalten hätte ...«
»Es geht um den Zeichner und einige seiner Skizzen«, erklärte Scott. »Ich fürchte, Krista und Kath sind in Gefahr, könnten einen Unfall mit dem Auto haben. Bitte verstehen Sie, dass ich die Leitung freihalten muss. Krista hätte längst anrufen müssen.« Als er seine Ängste in Worte fasste, wären Scott fast die Tränen gekommen. »Vielleicht versucht sie ja gerade, zu mir durchzukommen, während die Leitung durch unser Gespräch besetzt ist.«
»Oh.« Batemans ursprünglich heftiger Ton schwand. »Nun ja, vielleicht gibt es ja gar keinen Grund zur Sorge. Solche Leute können sich auch einmal irren, wissen Sie ...« »Auf Wiederhören, Vince.«
»Wiederhören«, sagte Bateman und fügte hastig hinzu: »Geben Sie mir Bescheid, falls ... Auf Wiederhören, Scott.«
Mit einem verzweifelten Seufzer hob Scott Kaths Puppe auf und setzte sie auf die Tischplatte. Ihr Kopf sackte schlaff nach vorn. Er warf einen Blick auf die Uhr. Als er sah, dass es bereits auf Mitternacht zuging, fuhr ihm die Angst so heftig in den Rücken, als habe ihn ein Skorpion gestochen. Sie hätte längst anrufen müssen. Sie hätte anrufen müssen ...
Als das Telefon eine halbe Stunde später erneut klingelte, schrie Scott erschrocken auf, während er den Hörer ans Ohr nahm. »Scott, hier ist Gerry.«
Scott sank das Herz in die Hose. Es hätte Krista sein müssen, dann hätte er diese ganze verdammte Angelegenheit vergessen können. Er hätte ihr sagen können, dass er sie liebte, wäre danach ins Bett gegangen und hätte die ganze Sache seiner überhitzten Fantasie zugeschrieben. Aber es war Gerry, und das verschlug Scott die Sprache. Da er das Schlimmste befürchtete, wollte ein Teil seines Ichs gar nicht hören, was sein Freund ihm mitzuteilen hatte.
Gerry rief jedoch nur an, um ihm zu versichern, die Polizei von Maine und Massachusetts werde volle Amtshilfe leisten. Er hatte den Polizisten mitgeteilt, es gehe um einen Fall von Kindesentführung, sie aber davor gewarnt, Gewalt anzuwenden: Vermutlich handle es sich bei der Kidnapperin um die vom Kind getrennt lebende leibliche Mutter. Da sich die Strafvollzugsbehörden nur ungern in häusliche Streitigkeiten einmischten, hatte er außerdem erwähnt, Mutter und Kind seien in einem gestohlenen Wagen unterwegs.
Nachdem sich Scott bei seinem Freund bedankt und für seinen kurz angebundenen Ton entschuldigt hatte, klemmte er das Telefon wieder in die Hand der Mickymaus.
Er machte ein weiteres Bier auf und stürzte es in hastigen, durstigen Zügen hinunter. Müde und hungrig wie er war, machte das Bier ihn sofort betrunken. Seine Muskeln schmerzten, genau wie seine Hüfte, und jetzt tat ihm auch noch der Kopf weh.
Das Donnergrollen da draußen rückte ständig näher, hin und wieder flammten im Süden grelle Blitze auf.
Sie hätte längst anrufen müssen, ging es ihm wieder und wieder durch den Kopf.
Sie hätte anrufen müssen ...
Als Scott gegen halb zwei Uhr morgens nach dem Sixpack Bier neben sich griff, fand er nur noch leere Dosen vor. Beim Aufstehen schwankte er. Er ging zur Stereoanlage hinüber, hob die Nadel von der Schallplatte - schon seit fast einer Stunde zirkulierte sie im Leerlauf und stieß immer wieder gegen das innere Etikett kehrte zum Telefon zurück und rief Caroline in Boston an. Das Gespräch war kurz, die Nachricht eindeutig. Sie hatten sich noch immer nicht bei Caroline gemeldet. Scott entschuldigte sich für die nächtliche Störung, worauf Caroline erwiderte, das sei schon in Ordnung und er solle sich keine Sorgen machen. Nachdem er sich von ihr verabschiedet und aufgelegt hatte, versuchte er zu lesen - zuerst eine wissenschaftliche Fachzeitschrift, danach ein Groschenblatt-, starrte jedoch nur auf die ewig gleichen Zeilen, ohne ihren Inhalt zu erfassen. Gegen zwei Uhr forderte der Alkohol sein Recht, so dass er wie betäubt einschlief, ohne dass die Bilder ihn losließen. Immer wieder hatte er im Traum die Zeichnungen vor Augen, nur gehörte das Gesicht jetzt Kath.
Stunden später - jedenfalls kam es ihm so vor, in Wirklichkeit war nur eine einzige Stunde vergangen — fuhr er bei einem heftigen Donnerschlag auf. Der sommerliche Sturm tobte inzwischen so heftig, dass der Strom ausgefallen und das Haus in Dunkel getaucht war. Allerdings funkelte das Zimmer in dem Moment, als Scott die Augen aufschlug, im Widerschein eines grellen Blitzes. Während dieses kurzen Augenblicks strahlender Helligkeit fiel sein Blick auf Kaths Flickenpuppe, die vor ihm auf der Tischplatte thronte: Ihr plumper Körper war aufgeschlitzt, so dass die Füllung in einem hässlichen, grauen Bausch hervorquoll. Aus einem Winkel des mit Grübchen verzierten Mundes rann frisches Blut.
Gleich darauf wurde es wieder dunkel, und als hier und da ein Blitz aufflackerte, war die Puppe wieder ganz, war wieder die gute alte Jinnie. Irgendwann dämmerte der Morgen herauf.
Beim ersten Tageslicht rief Scott noch einmal bei Caroline an. »Wahrscheinlich haben sie einfach in irgendeinem Motel übernachtet«, meinte sie. Allerdings verriet ihre Stimme, dass auch sie sich inzwischen Sorgen machte. Beide wussten sie, dass es Krista gar nicht ähnlich sah, sich nicht zu melden. Auch dieses Gespräch war kurz.
Nachdem er seine übervolle Blase entleert hatte, holte sich Scott das schnurlose Telefon und machte sich damit auf den Weg zum See. Der Sturm hatte inzwischen eine Atempause eingelegt, es fiel nur leichter Nieselregen. Die sabbere, kühle Luft roch nach regenfeuchtem Laub. Auf halbem Weg zum See hinunter entdeckte Scott ein vierblättriges Kleeblatt und bückte sich instinktiv, um es zu pflücken, entschied sich jedoch dagegen und markierte die Stelle stattdessen mit einem abgebrochenen Zweig. Er nahm sich vor, damit zu warten, bis Kath wieder bei ihm war, und dann so zu tun, als habe er das Kleeblatt gerade erst entdeckt...