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Während Scott sich alle Mühe gab, seine Sorgen zu verdrängen, setzte er den Weg zum See hinunter fort. Ringsum war das Grün blau gesprenkelt: Viele der dicken Blaubeeren, die man hier im August ernten konnte, hatten sich bereits vom Strauch gelöst und lagen auf dem Boden. Jenseits des Landestegs kräuselte eine Böe die Wasseroberfläche, um gleich darauf durch die Birken am Seeufer zu fahren und an ihren papierdünnen Blättern zu rütteln. Im Westen türmten sich zahlreiche noch nicht entladene Gewitterwolken übereinander und trieben wie in einer Regatta ungestüm dahin. Hinter Scott, im Osten, kämpfte die aufgehende Sonne um ihre Vorherrschaft. Ihr Licht erzeugte ein fast fluoreszierendes, gelbliches Grün, das unheimlich wirkte, als es die Hügel einhüllte und sie vor dem Hintergrund des rötlich übergossenen Himmels aufleuchten ließ.

Scott trat auf den Landesteg hinaus, blieb am Rand stehen und starrte in das aufgewühlte Wasser. Unwillkürlich versuchte er sich auszumalen, wie es wäre, ins Wasser einzutauchen, sich bis zu den Zehen zu strecken und in hohem Bogen hineinzuspringen ... Dabei wurde ihm so schwindelig, dass er sich schnell wieder auf festen Boden zurückziehen musste.

Mein Gott, ich wünschte, das Telefon würde endlich läuten. Er konnte dessen stummes Gewicht in der Jackentasche spüren. Ob so oder so: Alles war besser, als derart im Dunkel zu tappen.

Ach ja, wirklich?

Er nahm am Picknicktisch Platz, legte die Füße auf die Bank, stützte das Gesicht in die Hände und schaukelte in stiller Qual vor und zurück. Der Gedanke, seiner Frau und seiner Tochter könne etwas zugestoßen sein, war ihm unerträglich, erfüllte ihn mit ohnmächtiger Angst ... nein, etwas noch Stärkerem. Seitdem er diese Zeichnungen entdeckt hatte, die möglicherweise mit seiner Familie zu tun hatten, war Scott ein einziges Nervenbündel, ging auf Schatten los, malte sich katastrophale Szenen aus, die er nicht verdrängen konnte. Nachts hatte er sich sogar in etwas hineingesteigert, das er für eine von Übermüdung und Stress verursachte Halluzination hielt: Im flackernden Widerschein des Blitzes war es ihm so vorgekommen, als sei Kaths Puppe aufgeschlitzt worden und voller Blut. Jede Minute, die verstrich, ohne dass Krista anrief, bestärkte ihn in der Gewissheit, dass der Alte Recht gehabt hatte und ein Unfall passiert sein musste ... ein schlimmer Unfall. Ihm war kalt, er fühlte sich so leer und ausgehöhlt wie die Fässer, die unter dem Anlegesteg trieben.

Während er in der seltsam aufgeladenen Luft herumsaß, hörte er irgendwann eine Möwe mit so klagender Stimme schreien, dass sie beunruhigend menschlich klang. Als sich Scott zu dem Geräusch in seinem Rücken umdrehte - in seiner Müdigkeit hatte er sich ausgemalt, Kath habe sich aus Spaß an ihn herangeschlichen sah er, dass der grauweiße Vogel auf einem Felsen thronte, eine Elritze ausweidete und ihn mit den gelben Augen gleichzeitig argwöhnisch beobachtete. Voller Wut darüber, dass die Möwe ihn unwissentlich derart hereingelegt hatte, schwenkte er die Arme, bis sie davonflog. Während sie sich in die Lüfte schwang, verfolgte ihn ihr Geschrei wie hämisches Gelächter.

Scott schossen Tranen in die Augen, sein Blick verschwamm. Dennoch fielen ihm auf dem Boden nahe am Anlegesteg zwei seltsame rosafarbene Streifen auf. Als er näher hinsah, merkte er, dass es sich um Haarklammern handelte, die Krista gehörten. Gleich darauffiel ihm ein, dass sie die Klammern aus ihrem Haar gelöst hatte, als sie vor einigen Wochen mit ihm zusammen nackt im See gebadet hatte. Später hatte sie die Suche danach aufgegeben. Scott lächelte, während er die Klammern aufhob. Er nahm sie mit zum Tisch und rief sich dabei alle intimen Einzelheiten jener warmen Nacht ins Gedächtnis zurück.

Es war ein Samstag gewesen. Da Kath bei einer Freundin übernachtete, hatten Krista und er das Wochenende ganz für sich gehabt. Sie waren unten am Bootssteg gewesen, hatten sich ein bisschen betrunken und herumgealbert, bis Krista schließlich vorschlug, schwimmen zu gehen, und sich auszuziehen begann. Scott erinnerte sich noch deutlich an ihre blassen, vorgewölbten Brüste, die sich im körnigen Zwielicht des Mondes so erotisch von der ansonsten gebräunten Haut abgehoben hatten. Ebenso deutlich erinnerte er sich an die vage, Schwindel erregende Angst davor, bei Nacht zu schwimmen, ein Gefühl, das den Nervenkitzel noch erhöhte. Bis zum Morgen danach, dachte er grimmig, bis wir den steinigen Boden und das Unkraut spürten. Sie hatten gelacht, waren herumgeschwommen und hatten einander nass gespritzt, bis Krista sein Glied in die Hand genommen und hart gemacht hatte. Und dann hatten sie sich geliebt, auf dem Anlegesteg, nackt unter Sternen. Es war schön für sie beide gewesen. Und danach, es war unglaublich, waren sie an Ort und Stelle eingeschlafen, so ineinander verschlungen, dass sie nicht einmal gefroren hatten.

Sofort folgte auf diese Erinnerung eine andere. Seltsamerweise fiel ihm ein, wie Kath mit fünf Jahren einen Eiswürfel verschluckt hatte und fast daran erstickt wäre. Als erlebe sein Gehirn eine Art Kettenreaktion, führte eine Erinnerung zur nächsten. Es dauerte nicht lange, bis ihm eine ganze Kaskade von Erinnerungssplittern in schneller Abfolge durch den Kopf schoss.

Scott hätte nicht sagen können, wie viel Zeit verstrichen war, als der Wind plötzlich auffrischte und es erneut zu regnen begann. Völlig vertieft in das Mosaik von Erinnerungen überhörte er das erste schrille Läuten des schnurlosen Telefons, als es sich in seiner Jackentasche meldete. Beim zweiten Läuten reagierte er und zog es aus der Jacke, nahm jedoch nicht ab. Auf den Regen achtete er nicht. Ihm war nur die eigene Angst bewusst, die schwer auf ihm lastete, auf sein Herz drückte und es zu zermalmen drohte. Bestimmt war es Gerry, der anrief und mit seiner lauten Stimme gleich sagen würde: Tut mir Leid, Scott, aber sie sind tot... Sie sind beide tot...

Beim dritten Läuten nahm er den Hörer ans Ohr. Die Stimme am anderen Ende - eine hohe, angespannte Stimme, die vertraut klang - schnitt ihm das Wort ab, ehe Scott sich melden konnte. »Scott?«

Dieses einzige Wort wirkte wie ein schmerzstillendes Mittel. Kummer und böse Vorahnung lösten sich in einem einzigen bebenden, kaum hörbaren Atemzug auf. Scott fing zu kichern an.

»Hör zu, Scott, du wirst nicht glauben, in welcher Scheiße ich hier stecke ... Lachst du etwa? Es ist mein voller Ernst, Scott...« Es war Krista.

»... hörst du mir jetzt endlich zu?«

Ehe Scott antworten konnte, hörte er, wie die Stimme seiner Frau vor Wut scharf wurde und gleich darauf gedämpft klang, weil sie die Hand über die Sprechmuschel gelegt hatte. Sie sprach mit jemandem an ihrem Ende der Leitung - und nicht allzu höflich.

»Würden Sie mich hier, um Himmels willen, ein Privatgespräch führen lassen? Mein Gott noch mal!« Sie war wieder dran. »Nicht zu fassen, was das für Volltrottel sind.« »Was ist da los, Krista?«, fragte Scott, der seine Stimme endlich wiedergefunden hatte, aber immer noch grinsen musste. »Bist du gesund und munter? Was ist passiert? Als du dich nicht gemeldet hast, dachte ich schon ...«

»Das tut mir Leid, Liebling. Aber lass mich erklären. Oh, es ist eine lange Geschichte. Gestern Abend hab ich mit dem Auto eine gottverdammte Kuh angefahren ...«

»Eine Kuh?« Scott musste schon wieder kichern. Eine Kuh, dachte er mit hysterischer Heiterkeit, nur eine blöde, gottverdammte Kuh.

»Das ist nicht komisch. Wir hätten uns dabei verletzen ... oder sogar draufgehen können. Jedenfalls ist die arme Holsteiner inzwischen nur noch Hackfleisch. Ich hab ihre Hinterbeine mit der Stoßstange erwischt Der Bauer hat gesagt, er müsse sie erschießen. Weißt du, Kath und ich haben uns gestern Nachmittag völlig verfranzt und, na ja, du weißt ja, wie ich bin, wenn ich irgendwohin muss.«

Allerdings.

»Es war dunkel, und ich bin auf dieser gewundenen Straße ziemlich schnell gefahren ... Wenn Neuengland irgendwas im Überfluss hat, dann sind es solche Straßen mit Zickzackkurven.«