Sie waren immer noch drei Stunden von Boston entfernt, zweieinhalb, wenn sie viel Gas gab. Danach würde sie noch den Flughafen Logan International suchen müssen, eine Aussicht, die sie nach all dem, was an diesem Tag sowieso schon passiert war, nicht gerade in Hochstimmung versetzte. Am frühen Nachmittag hatte sie Caroline angerufen, um sie vorzuwarnen, dass sie frühestens gegen Mitternacht mit ihnen rechnen könne, da sie Scott noch vom Flughafen abholen müsse. Anschließend hatten Kath und sie sich eine Frühvorstellung in Fryeburgs einzigem Kino, der Zauberlaterne, angesehen, eine Wiederaufführung von Spielbergs Gremlins. Obwohl Krista anfangs skeptisch gewesen war, hatte ihr der Film schließlich doch Spaß gemacht. Nach der Hitze des Augusttages, bei der alles an einem zu kleben schien, war die Klimaanlage des Kinos ein wahrer Segen, und der Film brachte genau die richtige Mischung aus Witzigem und Blutrünstigem, um sowohl den hysterischen Aspekten ihres Frustes als auch ihren Mordgelüsten entgegenzuwirken.
Als sie die Interstate 95, die nach Süden führte, erreicht hatten, dämmerte es bereits. Während Kath ein Nickerchen machte, hielt sich Krista ständig links, als habe sie diese Fahrspur ganz allein für sich gepachtet, und fuhr im angenehmen, wenn auch überhöhten Tempo von hundertzwanzig Stundenkilometern dahin.
Als es dunkel wurde und die ärgerlichen Einzelheiten der letzten beiden Tage langsam verblassten, fiel Krista Scotts seltsame Bitte wieder ein, die Bitte, die er an diesem Morgen am Telefon geäußert hatte: »Bitte fahr nicht nach Einbruch der Dunkelheit.«
Noch deutlicher als an die Worte erinnerte sie sich an den Ton, in dem er es gesagt hatte. Er hatte sie fast angefleht -nicht offen, aber sie hatte es dennoch gespürt. Seine Stimme hatte dabei leicht geschwankt: Er hatte sich zwar alle Mühe gegeben, seine Sorge zu verbergen, aber regelrecht gebettelt.
Warum nur?, fragte sie sich, während die Mittellinie sich endlos weit vor ihr erstreckte. Am liebsten hätte sie es Scotts Charakter zugeschrieben - er neigte dazu, sich Sorgen um sie zu machen - oder ihrer eigenen Fantasie, aber es gelang ihr nicht.
Nun ja, jetzt blieb ihr sowieso nichts anderes übrig, als bei Dunkelheit zu fahren, oder? Entweder fuhr sie die ganze Strecke durch, oder sie würde in einem weiteren Nomad's Notch landen. Und eine solche Scheiße wollte sie auf keinen Fall noch einmal erleben, vielen Dank auch.
Sie legte eine Hand auf Kaths Oberschenkel, machte es sich im Sitz bequem und beschleunigte auf hundertdreißig.
Und wieder begann die Temperaturanzeige aufzuleuchten, anfangs nur schwach und mit gelegentlichem Blinken, bald darauf mit demselben anhaltenden Rot wie beim letzten Mal. Nach zwei, drei Kilometern tauchte ein Schild auf, das eine Autowerkstatt an der Ausfahrt Byfield ankündigte. Zu erschöpft, um sich auch nur irgendwie zu ärgern, bremste Krista ab und nahm die Ausfahrt. Nach Byfield waren es noch fünf Kilometer.
Der ölverschmierte Blödmann in der Werkstatt sah Ernie Thurston verdächtig ähnlich, nur war er jünger. Es hat etwas mit seinem Blick zu tun, dachte Krista, während sie dem Automechaniker, der gar nicht richtig zuhörte, von den Ärgernissen des heutigen Tages erzählte. Als sie den Kühler erwähnte, kam es ihr so vor, als leuchteten seine Augen genauso auf wie Ernies.
»Wenn heut ein neuer Kühlblock eingebaut wurde, dann hat sich wahrscheinlich bloß 'ne Klemme gelöst«, bemerkte er nur halb bei der Sache. Mit einem Auge fixierte er den tragbaren Farbfernseher auf dem Schreibtisch vor sich, der lautstark ein Spiel der Red Sox übertrug. »Ham Se stark aufs Gas gedrückt?«, fragte er nach einem Blick auf den dampfenden Volvo.
»Ziemlich«, räumte Krista ein. »Ich bin ein bisschen in Eile.«
Sie folgte dem Blick des Mannes und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch das vordere Fenster, das mit toten Insekten übersät war. Draußen konnte sie Kath sehen, die ihr verschlafenes Gesicht der Werkstatt zugewandt hatte. Als sie Kath betrachtete, überkam Krista plötzlich heftige, fast Schwindel erregende Liebe für ihr Kind.
»Tja«, bemerkte der Mechaniker selbstzufrieden, nachdem die Diagnose so schnell erledigt war. Bei dieser Art von Reparatur würde er nicht viel von dem Spiel verpassen müssen. »Fahrn Se den Wagen zur ersten Nische da drüben, dann schaun wa mal nach.«
Während der Mechaniker unter der Motorhaube herumwerkelte, ging Krista auf die Toilette, da sie dringend pinkeln musste. Danach schlenderte sie draußen herum. Es war eine sternenklare Nacht und Vollmond. Der Augustmond hatte einen seltsamen Kupferton, wie ein glänzender, neuer Penny. Krista fiel auf, dass neben Schmieröl und Benzin auch der schwach faulige Gestank eines Sumpfes zu riechen war, den sie von hier aus nicht sehen konnte. Die Bewohner der Lüfte machten sich mit lautstarkem Gezwitscher bemerkbar.
Plötzlich fröstelnd und mit einem seltsamen Übelkeitsgefühl im Magen, das der schwache Verwesungsgestank ausgelöst hatte, eilte Krista in die Werkstatt zurück und blieb dort mit verschränkten Armen stehen. Während sie dem Automechaniker zusah, dachte sie über die Schicksalsschläge der letzten vierundzwanzig Stunden nach. Irgendetwas an diesem ganzen traurigen Desaster machte ihr schwer zu schaffen. Sie konnte es zwar nicht genau benennen, aber es beunruhigte sie. Es war das absurde Gefühl, ein Gefühl aus dem Bauch heraus, dass jemand sie von außen gesteuert hatte und immer noch steuerte. Natürlich war das Unsinn und lag sicher an der Erschöpfung, die an ihren Nerven zerrte.
Aber...
Aber was hatte sie dazu gebracht, dort drüben in New Hampshire die falsche Straße zu nehmen?
War sie nicht einfach einer spontanen Eingebung gefolgt?
Ja, einer plötzlichen Eingebung, und das sah ihr selbst gar nicht ähnlich.
Oder steckte mehr dahinter ...?
(biege hier ab)
Eine innere Stimme? Ein innerer Befehl?
(bieg ab)
Und hatte es nicht wie die Stimme eines anderen geklungen?
(hier!)
Ach du lieber Herrgott, nein, dachte Krista und verwarf gleich darauf diesen offensichtlich verrückten Gedanken. Das ist Blödsinn, Kindchen. Es ist nichts anderes gewesen als dein ganz normaler Wahnsinn: eine alltägliche Situation, die du gründlich vermasselt hast.
Das Krachen der zuschlagenden Motorhaube brachte sie sofort zurück in die graue Wirklichkeit der Autowerkstatt. Im Hintergrund waren die lauten, hektischen Töne der Baseball-Übertragung zu hören, das Spiel steuerte auf einen Höhepunkt zu. Kath, die immer noch im Wagen saß, fuhr zusammen und wachte auf. Mit halb geschlossenen Lidern blickte sie sich in der trübe beleuchteten Nische um, igelte sich aber gleich darauf wieder ein, um weiterzuschlafen.
»Klemme war locker, genau wie ich dachte«, bemerkte der Mechaniker, wahrend er zurück ins Büro eilte. Sofort schoss sein Blick wieder zum Fernsehschirm hinüber. Die Stimme des Sportreporters überschlug sich fast vor Begeisterung über den Spielverlauf. »Allerdings müsste noch Frostschutzmittel nachgefüllt werden.«
»Tun Sie alles, was nötig ist«, erwiderte Krista. »Wenn ich nur fahren kann.«
Fünf Minuten später waren sie wieder auf der Straße. Die Temperaturanzeige am Armaturenbrett blieb dunkel und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Gemäß den Instruktionen des Automechanikers schlug Krista die südliche Richtung ein, anstatt den Rückweg nach Norden anzutreten, um von dort aus nach Osten, auf die Interstate 95, abzubiegen. Er hatte gesagt, sie werde etwa fünf Kilometer von der Tankstelle entfernt einen Zubringer zur Interstate finden - und jetzt tauchte auch schon das Schild auf.