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Die linke Abfahrt führte zu einer wenig befahrenen Landstraße, die sie an jene erinnerte, die sie am Vortag in New Hampshire entlanggefahren waren. Plötzlich war die Landschaft in eine fast unheimliche Dunkelheit gehüllt. Die Scheinwerfer des Fernlichts reflektierten die Schwärze so, als sei sie eine feste Masse. Hier und da drang schwacher, gelblicher Lichtschein durch die pechschwarze Nacht: Es waren die erleuchteten Fenster von Bauernhäusern, die ein gutes Stück von der Straße entfernt standen. Sie begegneten keinem anderen Fahrzeug. »Sind wir schon da?«

In ihre eigenen Gedanken vertieft, fuhr Krista zusammen, als Kath sich plötzlich meldete. »Bald, Liebes, ist nicht mehr weit. Warum schläfst du nicht noch ein bisschen?«

»Bin nicht mehr müde.«

Krista wurde bewusst, dass sich Kath die ganze Zeit über, die ganze verflixte Odyssee hindurch, wie ein wahrer Schatz verhalten hatte. Schließlich hätte sie ja auch Theater machen, herumjammern und damit die Sache noch viel schlimmer machen können, als sie ohnehin schon war. Aber nein. Da zeigte sich wieder mal, wie reif Kath für ihr Alter war. Dabei hätte ein kleiner Wutanfall vielleicht sogar gut getan, vor allem, wenn sie beide gleichzeitig getobt hätten.

Nahe an der gespenstisch wirkenden weißen Mittellinie lag ein totes Murmeltier. Ein großer schwarzer Vogel - eine Krähe oder ein Rabe — zog ein letztes Mal hastig an einem Strang von Gedärmen, ehe er sich in die Lüfte schwang und verschwand. Krista hatte angenommen, dass alle Vögel nachts schlafen. Der Kadaver des Murmeltiers leuchtete im Scheinwerferlicht kurz auf und tauchte gleich darauf hinter dem Wagen ins Dunkel.

»Armes altes Murmeltier«, sagte Kath in einer recht gelungenen Imitation von Mr. Rogers und verrenkte den Hals, um es in der Nacht verschwinden zu sehen. (Anm. d. U.: Mr. Rogers bezieht sich auf die Kindersendung »Mr. Roger's Neighbourhood« im amerikanischen Fernsehen, eine Serie im Kinderprogramm von PBS. Ihr Protagonist ist Fred Rogers, der kleine Geschichten erzählt und Lieder singt.)

Nach einem Blick auf die Uhr am Armaturenbrett klemmte Krista den Fuß noch fester aufs Gaspedal. Vor ihnen bog die Straße scharf nach links.

Einen Moment lang steuerten sie auf den dunklen Abgrund des Straßengrabens zu, aber gleich darauf brachte Krista den Wagen wieder auf Spur.

»Grrr-roße, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen ...«, sang Kath in schrillsten Tönen.

»Kath!«, sagte Krista lachend. »Das gehört sich nicht.« Es war ein Lied, das sie selbst als Mädchen gesungen hatte. Kaths schräger Gesang weckte bei ihr Erinnerungen an Lagerfeuer und nächtliche Gespenstergeschichten.

»Ich weiß«, kicherte Kath. »Komm schon, Mom, sing mit Grrrrroße...«

Krista stimmte in den Refrain ein: »... große, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen, Affenpfot und Hundekot...«

Der Wagen schoss über eines jener Schlaglöcher hinweg, die einem den Magen umdrehen können. »Huiiii!«, schrie Krista und beschleunigte im Rhythmus des Refrains. Die Straße, die mittlerweile aufwärts führte, fiel nach links steil ab.

»... große, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen, Affenpfot und Hundekot, alles eingewickelt zum Erwärmen, und mir fehlt der Löffel, welche Not...«

Hinter dem Buckel führte die Straße in einer Zickzack-Kurve scharf nach rechts, schärfer, als Krista erwartet hatte. Sie fuhr viel zu schnell, um das Tempo noch angemesssen zu drosseln.

Kath, die erst nach und nach begriff, was Kristas veränderter Gesichtsausdruck bedeutete, ließ das Lied mit leicht kabarettistischer Pointe ausklingen: »Doch mir fällt sogleich was ein, ich zieh's mit dem Strohhalm rein ... Schlüüürrrff!« Gleich darauf wandte sie den Blick, um durch die Windschutzscheibe zu spähen.

Irgendjemand stand mitten auf der Straße und schwankte wie ein Betrunkener hin und her.

Im Bruchteil der Sekunde vor dem unvermeidlichen Zusammenprall schossen Krista verschiedene Gedanken durch den Kopf, aber keiner hatte damit zu tun, dass ihr bisheriges Leben an ihr vorbeigezogen wäre. Während dieser kurzen, surrealen Zeitspanne kam ihr gar nicht der Gedanke, dass Kath oder ihr selbst etwas passieren könne. Vielmehr fragte sie sich, was ein Betrunkener mitten in der Nacht, mitten im Nirgendwo, mitten auf der Straße zu suchen habe. Ein Teil ihres Hirns kam in recht kühler Überlegung zu dem Schluss, dass sie auf keinen Fall in den Straßengraben und damit den Wagen zu Schrott fahren würde, nur um diesem Freak auszuweichen (wahrscheinlich war er geistig zurückgeblieben, als Folge ländlicher Inzucht...)

(Was ist mit seinem Gesicht los?)

Auf keinen Fall würde sie das lieben ihrer Tochter aufs Spiel setzen ...

(Was hat er für seltsame Klamotten an?)

... und ihr eigenes auch nicht Flüchtig registrierte sie, dass Kath angeschnallt war, sie selbst aber nicht Gleichzeitig fragte sie sich, wie viel (zusätzlicher) Schaden am Wagen entstehen, ob der Mann beim Zusammenprall sterben und was Scott zu all dem sagen würde.

(Grinst der Mann ?)

Ob Instinkt, Reflex oder schlichte Menschlichkeit: Jedenfalls übernahm jetzt irgendetwas die Herrschaft über Kristas Hände, so dass sie das Lenkrad nach rechts riss und versuchte, diesem todgeweihten Mann auf der Straße auszuweichen ...

(Ist das etwa ein Kind?)

Wie ein benommenes Tier wankte und stolperte die Gestalt direkt auf das Auto zu. Krista riss das Lenkrad hart nach rechts.

Kath schrie auf.

Was folgte, war ein grobes Knirschen von Metall - dann zersplitterte die Windschutzscheibe und verwandelte sich in ein Mosaik herumfliegender, stechender Scherben. Die Gestalt wurde mit dem Kopf voran durch die Scheibe geschleudert und landete direkt vor Kath. Für den Bruchteil einer Sekunde - die Zeitspanne eines aufflackernden Blitzlichts - konnte Krista das Gesicht im Schein des Armaturenbrettes sehen. Ein Großteil der einen Gesichtshälfte war wie weggeblasen; der Kiefer hing lose herunter, da die Bänder gerissen waren; aus dem Mund, der weit offen stand, sickerte schwärzliches Blut.

Dann türmte sich irgendetwas Massives vor ihnen auf, leuchtete auf — und Krista wurde aus dem Sitz geschleudert. Als sie mit dem Schädel gegen das Wagendach prallte, kämpfte sie trotz ihrer Benommenheit mit der makabren Vorstellung - der völlig irren Vorstellung —, dass das Gesicht, das soeben durch die Windschutzscheibe gekracht war, einem längst Verstorbenen gehören müsse. Und diese Vorstellung verfolgte sie immer noch, als sie den Weg durch den Tunnel antrat in dem der Atem für immer stockt. Und der in eine Dunkelheit führt, die keine Umkehr zulässt.

An einer niedrigen Mauer aus Feldsteinen kam der Wagen plötzlich zum Halt. Aus der eingedrückten Motorhaube wich Dampf. Die eingeklemmte Hupe erwachte zum Leben. Ihr durchdringendes Klagegeheul drang durch die Nacht, die unaufhaltsam auf den Morgen zuging, als sei nichts geschehen. Nichts rührte sich.

21

Scott beschloss, sich den Drink nun doch zu genehmigen, und bat die Stewardess, ihm etwas Starkes zu mixen. Während er trank, zwang er sich, an positivere Dinge zu denken.

Seine Frauen würden dort sein, alle beide. Entweder würden sie oben in der Ankunftshalle oder an den Gepäckbändern stehen. Bowmans Harem, nahe beieinander, mit allen Anzeichen freudiger Erwartung, bereit, ihn in die Arme zu schließen, die Gesichter ein einziges Lächeln. Sicher, heute war Vollmond — er hatte in seinem Taschenkalender nachgesehen aber das war nur ein belangloses Detail, das nun mal zur Szenerie eines Horror-Comics gehörte. Jede gute Friedhofsszene brauchte einen Vollmond, das war ein MUSS. Krista und Kath waren in Boston, sie mussten einfach in Boston sein. Wahrscheinlich waren sie schon vormittags angekommen. Sie würden am Flughafen auf ihn warten, er würde sie dort begrüßen. Und Krista dabei so nahe an sich heranziehen und so fest umarmen, dass ihre Rippen knackten. Kath würde ihm einen Kuss geben, seinen Daumen mit ihrer Hand umschließen und seinen Arm schwenken, während sie nach draußen zum Wagen gingen. Bestimmt würde Krista ihm die ganze traurige Geschichte noch einmal von vorn bis hinten erzählen. Und da sie in Neufundland aufgewachsen war, würde sie auf keinen Fall den Teil auslassen wollen, in dem der Kuhfladen auf der Motorhaube gelandet war.