An der Haustür, kurz bevor er sich auf den zwanzig Minuten langen Weg zum Health Sciences Center in Ottawa machte, überkam Scott der überwältigende Drang, laut loszubrüllen und damit das ganze Haus zu wecken, vielleicht auch den ganzen See. Aber er blieb standhaft. Stattdessen ging er zur Garage hinüber, stieg in den Wagen und legte eine Kassette ein. Während er auf dem Schotterweg den Hügel hinauffuhr, versuchte er, sich die abendliche Party vorzustellen. Bestimmt würden sie viel Spaß miteinander haben.
Aber das bedrückende Gefühl, das der Traum in ihm ausgelöst hatte, das merkwürdige Gefühl einer bösen Vorahnung wollte und wollte nicht verschwinden. Es begleitete ihn fast den ganzen Tag hindurch, als habe er leichtes Fieber.
2
Nachmittags gegen halb fünf hatte Scott den frühmorgendlichen Traum und die Mordsangst, die er ihm eingejagt hatte, nahezu vergessen. Während er auf dem Krankenhausflur der Station »Two Link< mit seinen Studenten sprach, waren seine Gedanken mehr oder weniger schon zu Hause auf der Sonnenterrasse, wo er sich später gemütlich entspannen und in Ruhe sein Bierchen schlürfen würde, so herrlich kalt, dass man es kaum in den Händen halten konnte. Ihm war heiß, und durch die stickige Luft der psychiatrischen Abteilung für chronisch Kranke drang ein nicht gerade angenehmer Geruch. Dicht gedrängt standen in Hufeisenform sechs Studenten in strahlend weißen, gebügelten Praktikantenkitteln um ihn herum, die ihm wissbegierig zuhörten. Sie waren auf ihrer Visite bereits bei fünf Patienten gewesen und die Fälle kurz durchgegangen. Scott war der Meinung, damit sei es mehr als genug für heute. Die letzte Patientin würde Mrs. Stopa sein. Er lockerte seine Krawatte und begann mit der abschließenden Anamnese.
»Mrs. Stopa ist dreiundneunzig Jahre alt.« Scott griff nach der Hand der alten, benommenen Polin, die vor ihm auf der Untersuchungsliege saß. »Sie hat eine Form von gewöhnlicher Altersdemenz - >altersbedingter Verfall« ist der Begriff, den das Lehrbuch verwendet« Das Lehrziel für den heutigen Nachmittag bestand darin, die Studenten an die Freuden des Alterns, genauer gesagt, der so genannten Vergreisung, heranzuführen. »Wie Sie sehen können, vegetiert sie förmlich dahin, ein Fall kompletter Geistesschwäche.«
Ehrlich gesagt, war Mrs. Stopa ein Paradebeispiel für Apathie. Sie starrte mit leerem Blick auf ihren Schoß, sie sabberte, ihre Kiefer mahlten unaufhörlich vor sich hin und erzeugten dabei nichts als grässliche Schmatzlaute. Sonst gab es leider kaum etwas, was Scott über die Alte hätte sagen können, und als sie plötzlich einen fahren ließ, verdrückten sich die Studenten diskret.
Scott beendete die Übungsstunde: »Gut, Freunde. Es ist schließlich Freitag. Wie wär's, wenn wir Schl- ...«
»He, Leute! Schaut euch das mal an!«
Eine junge, attraktive Studentin rief quer durch den Flur nach ihnen. Sie blickte fasziniert über die Schulter eines älteren Mannes, dessen Oberkörper in Kreuzgurten steckte, die ihn daran hinderten, aus dem Rollstuhl zu kippen. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei mit dem alten Mann nicht viel mehr los als mit seiner Mitpatientin Mrs. Stopa. Seine dürre Gestalt versank fast in der für senile Alte üblichen Anstaltstracht: ärmelloses Unterhemd, blaue Schlafanzughose, gestellt vom Krankenhaus, braune Filzlatschen. Außerdem umgab ihn der unverwechselbare Geruch nach Ammoniak. Sein scharfes Gesicht hatte tiefe Falten, vom Kinn hing ein Speichelfaden bis zu dem mit Essensresten voll gekleckerten Lätzchen. Die kleinen, dunkelbraunen, fast schwarz wirkenden Augen erinnerten an die Knopfaugen einer Stoffpuppe und unterstrichen den leeren Gesichtsausdruck.
Doch als Scott sich dem Alten näherte, flackerte plötzlich etwas in dessen Augen auf, was auf eine unvermutete geistige Aktivität schließen ließ. Es war so schnell wieder vorbei, wie es gekommen war. Aber innerhalb dieses Moments, der nur einen Atemzug lang andauerte, meinte Scott etwas ... Lauerndes in diesen von Krähenfüßen umrahmten Augen entdeckt zu haben. Verstärkt wurde dieses merkwürdige Gefühl durch das, was der Mann mit seinen Händen anstellte. Mit seiner Linken hielt er ein Zeichenbrett fest gegen seine Knie gedrückt, während er mit dem Bleistift in der rechten Hand zeichnete.
Scott hatte bereits von diesem alten Kerl gehört, ihn aber noch nicht persönlich zu Gesicht bekommen. Der behandelnde Therapeut und Chef der Psychiatrie, Vince Bateman, hatte den Fall des alten Herrn bei einer der Besprechungen, die regelmäßig mittwochmorgens stattfanden, als diagnostisch schwer einzuordnen eingestuft. Aus medizinischer Sicht erfüllte der Patient die meisten Kriterien für eine altersbedingte Demenz, dagegen sprach jedoch seine, wie Bateman behauptete, fast unglaubliche künstlerische Begabung. Der Alte war mit dem Rettungswagen eingeliefert worden, er war ohne Bewusstsein gewesen und hatte keinerlei Papiere bei sich gehabt, die ihn hätten ausweisen können. Bateman hatte ihn der Einfachheit halber auf den Namen der Zeichner getauft.
»Los, kommt her«, rief die Studentin nochmals. »Das müsst ihr sehen! Das ist einfach der Hammer!« Die Gruppe versammelte sich um den alten Mann und bestaunte neugierig die flinken, scheinbar zufälligen Bewegungen des Bleistifts auf dem Zeichenblock. Mit einem ungeduldigen Blick auf die Uhr stellte sich Scott zu ihnen.
Ungeachtet der Störung seiner Privatsphäre fuhr der Alte mit dem Skizzieren fort und schaukelte dazu im Takt der Musik, die aus dem Radio neben ihm drang. Es war eines jener alten Transistorradios, die vor mehr als zwanzig Jahren so populär gewesen waren, lange bevor Walkmans und Ghetto-blaster eingeführt wurden. Ein Streifen alten, schmuddeligen Kreppbands hielt das rissige und ramponierte Gehäuse zusammen.
Scott blickte auf den Zeichenblock des Alten, und sofort war seine Ungeduld wie weggeblasen. Als kleiner Junge war Scott ein richtiger Comic-Fan gewesen und hatte, von Sergeant Rock bis Richie Rich, alles verschlungen. Aber so etwas wie das hier hatte er noch nie gesehen.
Der Zeichner hatte Action-Szenen entworfen, deren einzelne Sequenzen durch die für die klassischen Comics typischen gerahmten Kästen liefen. Die Cartoons zeigten zwei Männer beim Boxkampf. Auf dem Letzten der Serie war zu sehen, wie einer von ihnen bäuchlings auf der Matte lag, während der andere mit gespreizten Beinen über ihm stand und die Arme triumphierend nach oben streckte. Vom Ohr des Unterlegenen sickerte, schwarz wie Blei, Blut auf den Boden; der Alte war gerade dabei, die Einzelheiten des besiegten Körpers auszuarbeiten. Der Bleistift bewegte sich mit unglaublicher Genauigkeit und Geschwindigkeit. Kein Zweifel, die Zeichnungen waren von hoch professioneller Qualität Nein, dachte Scott, es war mehr als das: Sie wirkten geradezu lebendig.
»Was ist mit ihm, Dr. Bowman?«, fragte einer der Studenten.
»Naja, das weiß keiner so genau«, antwortete Scott, während er versuchte, sich den Vortrag von Dr. Bateman ins Gedächtnis zu rufen. »Ein namenloser Landstreicher, den man bewusstlos im Park nahe des QE-Parkways gefunden hat. Er gehört nicht zu meinen Patienten. Aber wenn ich mich richtig erinnere, hat man bei ihm im Gegensatz zu den meisten anderen namenlosen Obdachlosen, die hier eingeliefert werden, keine klassischen Zeichen von Alkoholismus feststellen können.«
Scotts Blick streifte erneut den Mann im Rollstuhl. Für eine oder zwei Sekunden fühlte er sich durch das ständige Kratzgeräusch des Bleistifts irritiert.
»Er ist einfach fantastisch!«, sagte das Mädchen, das den Alten zuerst entdeckt hatte. »Seht mal, wie schnell er ist. Fast so, als müsse er dabei kaum auf das Blatt schauen.«