Das waren Worte, die er irgendwo gelesen hatte. Jetzt waren sie nichts als leere Phrasen.
Die Riemen der TWA-Flugtasche umklammernd, verließ Scott seinen Platz am Telefon. In der Halle blieb er mitten im Strom der Passanten stehen ... inmitten all dieser zielbewussten Menschen, lächelnden Menschen, Menschen, die genau wussten, wohin sie wollten ... ach ja ... auch er musste ja zu einem bestimmten Ort, den man ihm genannt hatte ...
Scott verließ die Flughafenhalle mit ihren grellbunten Fähnchen und den aufdringlichen geometrischen Deckenmustern und trat in die äußere Wartezone hinaus. Sein übriges Gepäck hatte er völlig vergessen. Ein Schwarzer in einer burgunderfarbenen Uniform führte ihn zu einem Taxi und half ihm hinein. »Zum Krankenhaus in Danvers«, sagte Scott Der Taxifahrer schaltete den Zähler ein. »Das für Allgemeinmedizin?«
Als Scott nickte, fuhr das Taxi mit quietschenden Reifen los. Vom Rücksitz aus starrte Scott aus dem Fenster, auf die blinkenden Lichter der Stadt So viele Lichter...
Das Krankenhaus für Allgemeinmedizin in Danvers, ein weitläufiger Flachbau, setzte sich aus alten Gebäudetrakten und später hinzugefügten Anbauten zusammen. Ein wortkarger alter Mann, der zum Aufsichtspersonal gehörte, geleitete Scott vom Foyer aus durch mehrere klinisch sabbere Gänge zur Notaufnahme. Dort erwartete ihn ein müde wirkender grauhaariger Mann in Anzug und Weste, der sich als Jim Holley vorstellte. Als richterlicher Beamter des Bezirks war der Mediziner in Fällen unnatürlichen Todes für die Klärung der Ursachen zuständig. Anfangs dachte Scott, der Beamte werde sich gleich bei ihm entschuldigen und ihm mitteilen, es sei alles ein großes, unverzeihliches Missverständnis, bedauerlicherweise habe man die Personen verwechselt: Tut uns Leid, Sir, wenn wir Ihnen durch diesen Schnitzer unnötig Kummer bereitet haben.
Aber nein, der hohläugige Beamte fragte ihn, ob er es verkraften könne, sich jetzt den Leichnam anzusehen und gegebenenfalls zu identifizieren.
Was für einen Leichnam? begehrte Scott innerlich auf, aber er schüttelte nur den Kopf. »Ich möchte zu meiner Tochter.« Im hinteren Bereich der Station fiel ihm eine Nische auf, die durch einen Vorhang abgeteilt war. Ob Krista dahinter lag? »Ich will zu meiner Tochter«, wiederholte er.
Holley nickte und legte Scott eine Hand auf die Schulter. »Das würde mir auch so gehen«, bemerkte er, die Gesichter seiner drei Töchter vor Augen. »Kommen Sie, ich bringe Sie hin.«
Die Intensivstation lag auf dem selbem Stockwerk wie die Notaufnahme. Am Eingang vertraute Holley Scott der zuständigen Krankenschwester an, die sie bereits erwartete. Die Schwester griff nach Scotts Hand und nahm ihn mit. Die Intensivstation verfügte über zwölf Betten, die sternförmig angeordnet waren. In ihrer Mitte stand eine L-förmige Steuer- und Überwachungsapparatur mit blinkenden Lämpchen und piepsenden Monitoren. Hier wurden alle Lebenszeichen, mochten sie noch so schwach sein, verfolgt und aufgezeichnet. Über ein Krankenblatt gebeugt, saß dort ein junger Arzt, aus dessen Kitteltasche sich ein Stethoskop wand. Als Scott vorbeiging, sah er nur flüchtig auf und beschäftigte sich sofort wieder mit dem Krankenblatt. Von irgendwoher war das Zischen eines Beatmungsgerätes zu hören.
Die Schwester blieb vor einer abgeteilten Nische stehen, nickte und ließ ihn dort ohne weitere Worte allein. Scott ging auf die Nische zu, verharrte jedoch am Eingang. Durch einen Spalt im fast blickdicht zugezogenen bunten Vorhang konnte er das Fußende eines Einzelbetts erkennen. Und dahinter Caroline, Kristas ältere Halbschwester, die Universitätsprofessorin.
Über das Bett gebeugt, die Hände vor der Brust gefaltet, saß sie da, ohne sich zu rühren. Scotts Anwesenheit hatte sie in ihrer Verzweiflung noch gar nicht bemerkt, so dass er einen Augenblick lang das schreckliche Gefühl hatte, gar nicht zu existieren.
Gleich darauf trat er vorsichtig näher.
Beim Anblick des Kinderarms, der schlaff auf dem Bett ruhte, blieb er erneut stehen. Ihm schoss die Erinnerung an den Vorabend durch den Kopf. Es war erst gestern gewesen, dass er in einem anderen Krankenhaus mit böser Vorahnung am Eingang eines Zimmers stehen geblieben war - mit einer Vorahnung, die ihn völlig gelähmt hatte.
Als er laut und mühsam Luft holte, drehte sich Caroline um, erkannte Scott und verzog vor Kummer das Gesicht.
»Oh, lieber Gott«, murmelte sie und stand unsicher auf. »Krista ...« Sie schlug die Hände vors Gesicht.
Scott, der immer noch wie erstarrt am Eingang stand, sah erneut zu dem Arm auf dem Bett hinüber. Auf dem Handrücken war mit Pflastern eine Kanüle befestigt ... War das Kaths Hand?
Fassungslos ließ er die Flugtasche fallen und trat noch einen Schritt näher.
Da erkannte er das silberne Armband.
Mit den Tränen kämpfend, zog Scott den Vorhang zur Seite.
Kaths Kopf wurde von einem Kissen gestützt. Starr, steif und zerbrechlich lag sie da, trotz der sommerlichen Bräune bleich. Ihre Arme, die irgendwie kindlicher als sonst wirkten, rahmten den Körper unter der Bettdecke wie schlaffe Teigrollen ein. Ein Mullverband, ähnlich dem um Scotts Bein, verhüllte das obere Drittel ihres rechten Arms. Er konnte sehen, wie sich ihr Brustkorb unter der Bettdecke hob und senkte. Abgesehen von ihrem Arm schien sie unversehrt zu sein.
Aber ihr Gesicht ... Die schreckliche Maske, zu der das Gesicht seiner kleinen Tochter verzerrt war, sollte Scott nicht so bald wieder vergessen.
Kaths Mund stand offen, erinnerte aber in keiner Weise an das lebendige, im Schlummer leicht geöffnete Oval, das er am Morgen seines Geburtstages so liebevoll betrachtet hatte.
Ihre Lippen waren wie zu einem lautlosen Schrei aufgerissen so dass die winzigen weißen Perlzahne zu sehen waren. Mitten auf ihrer sonst so glatten, glänzenden Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet - Kaths Sorgenfalte, nur war sie jetzt tiefer und entstellte das Gesicht geradezu. An einem Nasenloch klebte blutiger Schorf; außerdem hatte sie am Hals und auf der rechten Wange zwei, drei kleine Schnittwunden, die jemand mit ganz gewöhnlichen Pflastern verarztet hatte. Ihre Augen ... Oh Gott, ihre Augen ...
Scott wurde plötzlich so schwindelig, dass er sich auf den Bettrand setzen musste. Als er mit beiden Händen Kaths Hand, in der die Kanüle steckte, umschloss, zitterte er. Nicht nur deswegen, weil diese Hand so wachsweich und kalt wirkte, sondern vor allem wegen ihrer Augen.
Sie standen offen, so weit offen, als bemühe sie sich mit aller Kraft, sie aus den Höhlen treten zu lassen. Wie die Augen einer Puppe starrten sie ins Leere.
Wie Scott verblüfft bemerkte, drückten sich in ihrem Gesicht nicht Schock oder Schmerzen aus, vielmehr wirkte es völlig künstlich, unnatürlich. So wie eine aus Elfenbein geschnitzte Maske, die äußerste Angst symbolisieren sollte. Es juckte ihn in den Fingern, die Hand auszustrecken und Kath die Augen zu schließen. Doch sofort schoss ihm ein schlimmer Gedanke durch den Kopf, der ihn bis ins Innerste traf und daran hinderte: So etwas darf man nur bei Verstorbenen tun, das darf ich nur bei Krista tun. »Kath«, flüsterte er, »Kath, ich bin's, Daddy. Bitte ...« »Scott...«
Caroline. Wie leise, wie vom Kummer niedergedrückt ihre Stimme klang. Scott wollte ihr den Kopf zuwenden, aber er gehorchte ihm nicht. Diese Augen... »Dr. Bowman?«
Scott ließ Kaths Hand los und drehte sich zu der unbekannten Stimme um. Es war der junge Arzt, der über dem Krankenblatt gebrütet hatte, als Scott auf die Station gekommen war. Er bedachte den Mann mit einem kaum merklichen Nicken, um sich gleich darauf wieder Kath zuzuwenden.
»Ich bin Dr. Cunningham«, sagte der Mann mit starkem irischen Akzent. »Ich habe Ihre kleine Tochter hier aufgenommen.«