Innnerlich murmelte Scott ein »Danke«, aber er brachte kein Wort heraus.
Cunningham ließ sich davon nicht beirren. »Abgesehen von einer bösen Schnittwunde an ihrem Arm, die wir in der Notaufnahme genäht haben, hat sie keine weiteren Verletzungen, soweit wir diagnostizieren konnten. Sofort nach ihrer Ankunft haben wir eine Computertomographie durchgeführt, aber nichts von Bedeutung finden können. Sie hat sich weder einen Schädelbasisbruch noch Hirnquetschungen zugezogen. Vielleicht hat sie eine Gehirnerschütterung, aber ich bin mir da nicht sicher. Wegen der Schnittwunde am Arm hat sie recht viel Blut verloren, allerdings nicht so viel, dass sie eine Transfusion gebraucht hat.« Er deutete auf den Monitor über dem Bett. Ein Kardiogramm, das Rhythmus und Intensität von Kaths Herzschlägen aufzeichnete, lief stumm als grüne Linie mit Kurven und Zacken über den Bildschirm. »Ihr Herzschlag ist stabil.«
(das ist alles ein Irrtum ... bin nicht wirklich hier... das passiert nicht wirklich)
Scotts Hand tastete nach der empfindlichen Schwellung an seinem Hinterkopf, die inzwischen so groß wie ein Gänseei war. Bewusst drückte er so heftig auf die Beule, dass ihn ein scharfer Schmerz durchfuhr. Das zumindest war real.
Es ist wie eine Gehirnerschütterung...
»Eindeutig so ein Fall, bei dem der Sicherheitsgurt lebensrettend war«, erklärte der Arzt. »Allerdings hat ihr letztendlich wohl der Bursche, der sie gefunden hat, das Leben gerettet. Er hat ihr die Wunde am Arm verbunden. Andernfalls hätte sie wohl so viel Blut verloren, fürchte ich, dass es kritisch geworden wäre.«
»Was ist denn eigentlich mit ihr los?«, fragte Scott, dessen Gesicht höchste Verwirrung ausdruckte, in seiner Hilflosigkeit. »Warum ist sie ... so?«
»Ich halte es für eine Art von Katatonie als Reaktion auf die Ereignisse. Das würde auch die abgeschwächten, ansonsten aber normalen neurologischen Werte und den gegenwärtigen Zustand innerer Abwesenheit erklären.« Mit offener Handfläche deutete er auf Caroline. »Caroline hat mir erzählt, dass Sie Psychiater sind. Halten Sie Katatonie für eine annehmbare Diagnose?«
Für einen winzigen Moment wurde Scott wieder zum Psychiater (gleich darauf wäre er kaum fähig gewesen, den Begriff zu definieren, schon gar nicht, eine Diagnose vorzunehmen), und in dieser Rolle musste er dem Assistenzarzt mit den wachen Augen Recht geben. Es war genau die Art von Erklärung, die er im Fall eines fremden Kindes angeboten hätte. Als Experte wusste er, dass traumatische Situationen recht oft Zustände zeitweiliger Lösung aus der Realität erzeugten, deren Grad variieren konnte. Sie reichten vom bewussten Abschalten bis zur völlig unfreiwilligen und weit reichenden Abkapselung von der Umwelt.
Aber sofort regten sich erneut Zweifel in ihm, die ihn mit Angst erfüllten und das Schlimmste befürchten ließen, so dass es ihn wieder in den Fingern juckte, Kaths Augen zu schließen. Warum mussten ihre Augen auf diese Weise offen stehen? Warum waren sie nur halb geöffnet und blinzelten? Warum wirkten die Augäpfel wie Glasmurmeln und erinnerten eher an die Requisiten eines Tierpräparators als an etwas Lebendiges? Warum schlossen sie sich nicht einfach? Dann hätte er sich vormachen können, Kath schlafe nur.
»Wir behalten sie zur Beobachtung da«, erklärte Cunningham. »Zumindest über Nacht. So können wir eher ausschließen, dass sie irgendwelche nicht erkannten inneren Verletzungen hat«.
Warum redet der Kerl so mit mir, als sei ich nur irgendein Kollege ? Warum lässt er uns nicht in Ruhe ?
Als habe er Scotts Gedanken gelesen, wandte sich der Assistenzarzt zur offenen Tür. »Ich bin gleich nebenan, Doktor ... wenn Sie später wieder zurück zur Notaufnahme möchten.« Mit wehendem Kittel verließ er den Raum.
Caroline griff nach Scotts Hand und drückte sie. Nach kurzem Zögern stand Scott auf und nahm Caroline in die Arme. Mit zuckenden Schultern presste sie ihr Gesicht gegen Scotts Brust und weinte. Scotts Augen blieben trocken. Er empfand nichts als eine innere Leere, da er die ganze Situation schlicht nicht fassen konnte. Als er zu schlucken versuchte, fehlte ihm jeder Speichel. Irgendetwas drückte bedenklich auf seine Magengrube: Er hatte Flugzeuge im Bauch, eine schreckliche innere Unruhe machte ihm zu schaffen.
23
Nachdem er wieder zu Dr. Holley, dem Untersuchungsbeamten, gestoßen war, hielt er sich nahe hinter ihm - wie ein Hund, der seinem Herrchen bei Fuß folgt In der Stille der Nacht hallten ihre Schritte auf dem Gang der Klinik wider. Scott kam das Geräusch allzu laut vor, wie von einem Verstärker verzerrt. Als sie um die Ecke zur Notaufnahme bogen und Holley den Vorhang, der die Nische abteilte, aufzog, erinnerte sich Scott an die erste und einzige Narkose, die er im Leben bekommen hatte. Ihm fiel ein, wie ihm die Geräusche - die Stimmen der Arzte und Schwestern, das Klirren und Klappern des Operationsbestecks, das Zischen kondensierter Gase - beim freien Fall ins Leere unnatürlich laut vorgekommen waren. Was er jetzt erlebte, war ähnlich: Aufgrund seines erhöhten Wahrnehmungsvermögens empfand er alles als real und gleichzeitig irreal.
Von der Decke strahlte ein Neonleuchtkörper; eine Röhre flackerte und würde bald ihren Geist aufgeben. An der Wand hing eine Manschette zum Blutdruckmessen, in einer Ecke stand ein verstellbarer Hocker und in der Raummitte eine Bahre, auf der ein in Laken gehüllter Leichnam lag. Vom Körper waren nur die wächsernen, von der Todesstarre steifen Füße zu sehen.
Scott, oder irgendeinem Teil von ihm, der sämtliches Denken und alle Empfindungen ausgeschaltet hatte, war durchaus klar, dass es Kristas Leichnam war. Wer sonst würde Nagellack in knalligem Lila auftragen? Die Umrisse ihrer schlanken Figur hätte er überall wiedererkannt, unter hundert verhüllenden Laken. Wie oft hatte er sie so gesehen, unter einer seidenen Tagesdecke, wenn ihr warmer Körper darauf gewartet hatte, dass er ...
Womöglich ist sie jetzt genau dort, schoss es ihm durch den Kopf, zu Hause im Bett, schlummert fest und friedlich an meiner Seite und ahnt gar nichts von diesem düsteren, schrecklichen Albtraum.
Als Scott sich der Bahre näherte, musste er gewaltsam gegen den Drang zur Flucht ankämpfen. Er ging wie auf Watte. Dieser Geruch ... Was ist das für ein Geruch? Holley schlug das Laken zurück und enthüllte Kristas zerschmetterten Körper. Riecht so der Tod?
Scotts Augen konzentrierten sich auf einen imaginären Punkt zwischen ihm und dem Leichnam auf der Bahre. Die immer noch viel zu lauten Geräusche um ihn herum verschmolzen nach und nach zu einem Summen tief in seinem Schädel, das so wie das Sirren von Hochspannungsleitungen bei starkem Wind klang.
Bedächtig wie ein Bergsteiger, der nach einem schlaffen Seil greift und es sorgfältig spannt, nahm er das Bild ins Visier. Es Kristallisierte sich heraus, wurde unscharf und gleich darauf wieder deutlich.
Scott Bowman sah auf den Leichnam seiner Frau herab: auf die tödlich verletzte, eingedrückte Stirn; auf das angeschwollene, gerötete Gesicht; auf die blutverschmierten Augenlider und die Nase; auf das zerschmetterte Gebiss; auf die dünnen, zurückgezogenen Lippen, die ihn an das letzte Zähnefletschen eines tödlich verwundeten Tieres am Straßenrand erinnerten. Aber was er wahrnahm, war nur irgendein Leichnam in einem Labor der Anatomie.
Genau wie damals, während des Medizinstudiums, dachte er und wusste gleichzeitig, dass der Gedanke völlig verrückt war.
Als Holley den Leichnam wieder bedecken wollte, hinderte Scott ihn daran und zog stattdessen das Laken noch weiter herunter.
Da waren ihre Brüste, seltsam flach und dort, wo das Lenkrad sie gequetscht hatte, mit einem rötlichen Bogen überzogen; dort ihr auf Melonengröße angeschwollener, angespannter, mit blauen Flecken übersäter Bauch. Scott war klar, dass sich an dieser Stelle ihr ganzes Blut gestaut haben musste. Ein Riss in der Milz. Ja, bestimmt hatte es ihre Milz erwischt.