Scott schüttelte den Kopf. Es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, irgendwo anzurufen. Klara würde er als Erstes benachrichtigen müssen, danach Kristas Mutter... Vielleicht konnte er das aber auch Klara überlassen ... Ja, das würde das Beste sein. Er sollte auch Gerry anrufen ... und einige der anderen engsten Freunde, aber das konnte warten.
Holley stand auf. »Die Schwestern haben alle Formulare, die Sie brauchen.« Er deutete auf die Computerkonsole hinter der seitlichen Wand aus Plexiglas. »Sie können sie ausfüllen, sobald Sie sich dem gewachsen fühlen.« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Ich habe hier noch etwa eine Stunde zu tun, dann muss ich in die Stadt. Wenn Sie möchten kann ich Sie bei der Werkstatt absetzen, wo die Polizei Ihr Auto abgestellt hat. Inzwischen müssten die uns auch mitteilen können, ob möglicherweise irgendwelche technischen Probleme den Unfall verursacht haben. Sie können dann gemeinsam mit denen entscheiden, was mit dem Wagen am besten geschehen soll.«
Scott setzte sich auf und rutschte zum Rand des Liegesessels. Während er sich mit kraftlosen Händen das Gesicht rieb, spähte er durch die Finger auf Kath, deren Augen halb offen standen und hoffnungslos leer wirkten. Vage merkte er, was Holley gerade tat: Ebenso behutsam wie bestimmt versuchte der Untersuchungsbeamte, ihn dazu zu bewegen, sich mit den Realitäten zu befassen - vielleicht weil ihm klar war, dass Scott nahe dran war, jeden Bezug dazu zu verlieren.
»Ich weiß nicht, ob ich meine Tochter allein lassen soll«, erwiderte Scott. In seinem Kopf hatte es schmerzhaft zu pochen begonnen, und es schien schlimmer zu werden, nachdem er sich aufgesetzt hatte. »Vielleicht sollte ich noch eine Weile hier bleiben.« Er massierte seine Schläfen. Im Mund hatte er einen widerlichen Geschmack, außerdem war sein Gaumen wie ausgedörrt. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, ihm werde sich gleich der Magen umdrehen, aber es ging vorbei.
»Machen Sie sich keine Sorgen.« Holley tippte auf den Funkrufempfänger, der an seinem Gürtel klemmte. »Ich habe einen Beeper mit großer Reichweite dabei und werde dafür sorgen, dass man uns benachrichtigt, falls sich am Zustand Ihrer Tochter irgendetwas ändert.« Holleys sachtes Drängen nahm mehr und mehr einen vorsichtigen Befehlston an. »Wie wär's, wenn Sie sich ein bisschen frisch machen, duschen, vielleicht auch Kaffee trinken? Ich bin in einer Stunde zurück. Dann können Sie damit anfangen, einige der nötigen Dinge hinter sich zu bringen, einverstanden?«
Unsicher nickend, wandte sich Scott wieder seiner Tochter zu.
»Sie kommt schon wieder hin«, bemerkte Holley und bediente sich dabei erneut aus dem Repertoire wohltönender Floskeln, zu denen Mediziner in solchen Situationen greifen. »Sie werden's bald merken.« Gleich darauf verschwand er.
Zwar hatte Scott sich seit vierundzwanzig Stunden nicht rasiert, auch nicht geduscht oder die Kleidung gewechselt, dennoch verzichtete er aufs Frischmachen. Er lehnte auch den Kaffee ab, den eine Krankenschwester ihm anbot. Stattdessen blieb er am Bett der kleinen Gestalt sitzen, die sich nicht rührte, während sein eigener Körper jede Verbindung zur Realität verlor und sein Gehirn auf Leerlauf schaltete.
Ehe er eine Stunde später mit Holley aufbrach, sah er noch bei Caroline herein, die immer noch schlief, dabei etwas murmelte und sich unruhig hin und her warf.
26
Der Ort, an dem sein Wagen auf Veranlassung der Polizei sichergestellt war, entpuppte sich als Texaco-Werkstatt mit zwei Parkplätzen im Süden der Stadt. Der Volvo stand seitlich der Werkstatt neben einem lädierten Duster und sah von hinten völlig unversehrt aus. Holley parkte seinen silbernen Mercedes am zugemüllten Vordereingang. Während er ausstieg, winkte er einen Automechaniker herbei, der unter einem gelben Honda gelegen und gerade einen Wagenheber angesetzt hatte. Scott wartete im Auto, vermied bewusst jeden Blick auf den Volvo und sah stattdessen zu Holley und dem Mechaniker hinüber. Der Mann musterte Scott mit zusammengekniffenen Augen, sagte kurz irgendetwas und zuckte danach mit den Achseln. Schließlich gingen er und Holley in die Werkstatt.
Verstohlen, als sei es etwas Verbotenes, warf Scott einen Blick auf den Volvo. Von seinem Platz aus konnte er sehen, dass der Wagen vorne böse eingedrückt war, deshalb wandte er den Blick gleich wieder ab.
Wie hatte das passieren können? Unweigerlich drängte sich ihm die Frage auf: Lag es an irgendeinem technischen Versagen? Caroline hatte ihm am Telefon erzählt, Krista habe irgendwelche Probleme mit dem Wagen gehabt. Hatte der Automechaniker in der Werkstatt, die Holley erwähnt hatte, Mist gebaut? Der Volvo war ein ausländisches Fabrikat mit Turboantrieb. Automechaniker ohne spezielle Ausbildung kannten sich damit normalerweise nicht aus. Hatte der Drecksack irgendwie herumgepfuscht, weil die Reparatur über seinen Horizont ging? Hatte er irgendeinen katastrophalen Fehler gemacht?
Scott dachte daran, auszusteigen. Er würde diese Leute selbst fragen, wenn Holley so ewig lange brauchte ...
Gleich darauf trat der Untersuchungsbeamte wieder aus der Werkstatt, ging hastig auf den Mercedes zu, kam zur Beifahrerseite und öffnete die Tür. Scott stieg aus und folgte ihm zu dem Platz, wo der Volvo abgestellt war.
Auf dem Weg dorthin war Scott nur vage bewusst, dass Holley mit ihm sprach. Wie er sagte, hatten die Mechaniker den Volvo zwar peinlich genau untersucht, aber keine Anzeichen für irgendwelche technischen Probleme gefunden, die als Unfallursache in Frage kamen. In Scotts Kopf wurde das alles von dem hohen Summton überlagert, der im Leichenzimmer der Notaufnahme eingesetzt hatte und ihn seitdem langsam verrückt machte. Während er, innerlich widerstrebend, auf den Wagen zuging, verstärkte sich der Summton noch und füllte seinen Schädel mit weißem Rauschen.
Scott biss sich auf die Lippen und zwang sich, das in Augenschein zu nehmen, was seine Familie zerstört hatte - den Beweis für die Katastrophe. Zwar kämpften seine Augen verzweifelt dagegen an, aber er überwand seinen Widerwillen, hinzusehen. Er inspizierte zunächst das Heck, wo der Wagen immer noch heil und ganz war. Für den Augenblick konnte er so tun, als sei gar nichts passiert. Als er merkte, dass die Fahrertür eingedrückt war, zögerte er kurz, während er sich sagte: Ist doch gar nicht so schlimm ... Das kann man doch durchaus überleben ...
Vorsichtig ging er weiter, blieb aber gleich darauf neben dem unversehrten Seitenspiegel stehen. Von hier aus konnte er sehen, dass die Motorhaube aufgesprungen und die Windschutzscheibe zerschellt war. Das erklärte die kleinen Schnittverletzungen, die Kath im Gesicht und am Hals hatte. Unbewusst rieb er sich über die alte Narbe am Kinn.
Als er am Armaturenbrett oberhalb des Lenkrads eine Pfütze eingetrockneten Blutes entdeckte, wandte er den Blick sofort ab. Das Atmen fiel ihm so schwer, als steche ihn ein Eispickel in die Kehle. Mit wackligen Beinen ging er weiter, zur Vorderseite des Wagens, und stolperte dabei über einen losen Asphaltbrocken. Hier war der Schaden am schlimmsten, wie deutlich zu sehen war.
Der Kühlergrill war völlig zersplittert, die Motorhaube hochgeklappt. Die Kotflügel hatten sich um mindestens sechzig Zentimeter verzogen und wie bei einer Ziehharmonika aufgerollt. Als Scott durch das gähnende Maul der Haube ins Innere spähte, sah er, dass sich der Motor aus der Aufhängung gelöst hatte und unter das Fahrgestell gerutscht war. Ihm fiel ein, wie der Verkäufer seinerzeit die besondere Sicherheit der Aufhängung gepriesen hatte (»Bei einer Frontalkollision landet der Motor garantiert nicht auf Ihrem Schoß.«) Damals hatte er gedacht: Ist ja alles gut und schön, aber so weit wird es bei mir nie kommen. Doch nicht bei mir ... doch nicht bei uns.
Immer noch versuchte Scott nach Kräften, die ganze Sache zu leugnen. Er klammerte sich an die illusorische Hoffnung, der Wagen könne jemand anderem gehören ... Aber als er sich durch das offene Seitenfenster beugte, entdeckte er seitlich auf der Fußmatte einen von Kaths Plastikslippern (Glibberschuhe hatte sie die genannt). Und da war auch der V-förmige Riss im Polster: Er stammte von dem Profilmesser für Reifen, den Krista bei Canadian Tire erworben hatte. Mein Gott, was hatte sich Krista damals über die eigene Ungeschicklichkeit aufgeregt...