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Er hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde, hatte bei der endlosen Fahrt von der Texaco-Werkstatt bis zum Krankenhaus an nichts anderes gedacht. Dennoch warf ihn die Frage völlig aus dem Gleichgewicht.

Caroline vergrub das Gesicht in den Händen und brach in Tranen aus. Kath blickte nur auf ihren Vater, suchte in seinen Augen nach einer Antwort. Scott konnte nichts anderes tun, als ihren Blick zu erwidern. Sein Hirn - oder der Teil davon, der für das Nachdenken und vernünftige Erklärungen zuständig war - war plötzlich leer. Wie soll ich die Worte finden ? Was sind die richtigen Worte? Wie sagt man einem Kind, das seine Flickenpuppe liebt, an den Weihnachtsmann glaubt und McDonald's super findet, dass seine Mutter gestorben ist? Hatte er es denn bis zu diesem Moment selbst geglaubt? Wohl nicht. Denn genau diese unschuldige, schlichte Frage sorgte jetzt dafür, dass ihn die Wahrheit mit der Wucht einer Kanonenkugel traf. Wie finde ich die richtigen Worte?

Aber es waren gar keine Worte nötig. Kath lehnte sich kraftlos zurück, schmiegte sich in die Kissen und wandte ihren irgendwie verloren wirkenden Blick zum Fenster und zur grauen Welt da draußen.

»Sie ist tot«, sagte Kath. Eine nüchterne und unwiderlegbare Feststellung. »Ich wusste es, ich hab davon geträumt.«

Caroline floh tränenüberströmt aus dem Zimmer. Scott vergrub das Gesicht in Kaths Kopfkissen und vergoss die bittersten Tränen seines bisherigen Lebens. Nach einer Weile zog Kath ihn nah zu sich heran und sie weinten gemeinsam um Krista, die sie für immer verloren hatten.

Einige Zeit später verließ Scott völlig erschöpft und zutiefst deprimiert die Intensivstation. Irgendwann war Kath schließlich in den Schlaf hinübergeglitten. Anfangs war Scott sehr beunruhigt gewesen, da er fürchtete, sie werde erneut ins Koma, in den Zustand der Katatonie, oder was immer es gewesen sein mochte, fallen. Aber als er feststellte, dass sie auf Reize mühelos reagierte, beschloss er, sie schlafen zu lassen. Zumindest für Kath gab es diese Fluchtmöglichkeit.

Doch dann fiel ihm ein, dass sie das Schicksal ihrer Mutter im Traum vorhergesehen hatte, wie sie ihm erzählt hatte, und ihm wurde klar, dass keiner von ihnen der Wahrheit entkommen konnte. Sie würden sich Kristas Tod stellen müssen, genau wie dem eigenen.

Ja, Krista war tot, das begriff er jetzt. Und sprach es in der gottverlassenen Stille des Aufenthaltsraums auf der Intensivstation laut aus: »Krista ist tot.« Kaths Frage hatte ihm diese Tatsache auf brutale Weise deutlich gemacht und das Schutzschild der Leugnung, unter das er sich zurückgezogen hatte, so gewaltsam zertrümmert wie eine Spitzhacke, die Glas zerschlägt. Die Wahrheit traf ihn jetzt mit aller Schärfe, schnitt in sein Innerstes, aber er würde daran nicht sterben. Denn jetzt gab es Dinge, die er erledigen musste, Dinge, die rationale Überlegung und peinlich genaue Planung verlangten. All die Dinge, die Holley ihn am frühen Morgen zu erledigen gedrängt hatte. Die Pflichten, die ein Todesfall mit sich brachte.

Er würde sich um die Bestattung seiner Frau kümmern müssen. Gott ja, die Bestattung. Er würde damit ein Beerdigungsinstitut in Ottawa beauftragen müssen, das auch Einäscherungen veranlasste. Krista hatte sich eine Feuerbestattung gewünscht. Vor vielen Jahren hatte sie diesen Wunsch irgendwann nachts geäußert, ein, zwei Wochen nach der Beerdigung seiner Eltern. In jener Nacht war Scott wegen eines heftigen Sommergewitters aufgewacht und hatte Krista auf einem Stuhl am Fenster entdeckt, wo sie mit leerem Blick auf das Schauspiel am Himmel starrte. Damals hatte sie ihm von der Angst erzählt, die sie seit dem Tod ihres Vaters mit sich herumschleppte.

Ihr Vater war an Krebs gestorben, als sie noch ein kleines Mädchen war. Während sie bei der Totenwache vor seinem Sarg kniete, hatte sich Krista gefragt, ob das Wesen ihres Vaters - seine Seele - immer noch in seinem Körper gefangen sei. »Wie soll sie da herauskommen?«, hatte sie Scott in jener Nacht im Schlafzimmer ihrer gemeinsamen Wohnung in der Frank Street gefragt, als habe sie das Dilemma des kleinen Mädchens noch immer nicht gelöst.

Beim Tod ihres Vaters war sie acht Jahre alt gewesen. Ihre kindliche Fantasie hatte sie auf den eigentlich ganz natürlichen Gedanken gebracht, ihr Daddy müsse wohl immer noch in seinem Körper stecken und alles mitbekommen, könne es aber niemandem erzählen, da dieser Körper ja tot war. Wie nur ein Kind es vermag, hatte sie sich ausgemalt, wie er nach dem Trauergottesdienst hilflos in dem mit Satin ausgekleideten Sarg liegen würde. Bestimmt würde er hören, wie der Deckel klickend einrastete, wenn der Leichenbestatter den Sarg zum letzten Mal verschloss, bestimmt würde er merken, wie ihn ewige Dunkelheit umfing. Sie stellte sich vor, wie ihn die Sargträger später auf die Schulter hieven und auf dem Weg zum Grab durchschütteln würden. Während sie den Sarg langsam in die Grube senkten, würde er gedämpft verschiedene Geräusche wahrnehmen: die Psalmen und Gebete des Gemeindepfarrers, das dumpfe Aufschlagen der Erde auf dem Sargdeckel, wenn der Totengräber mit dem Spaten kam. Nach und nach würden diese Geräusche verstummen ... Und schließlich würde Stille eintreten, ewige Stille. Nur das fast lautlose Werk der Zeit, die Verwesung mit sich brachte, würde diese Stille stören.

Als erwachsene Frau war Krista zu dem Schluss gekommen, dass sie anders von dieser Erde scheiden wollte. Lieber wollte sie, dass sich ihre Seele in einem alles vernichtenden Feuer aus dem Körper löste. Die Alternative kam ihr noch unheimlicher vor, denn dabei musste sie darauf vertrauen, dass Erde und Verwesung nach und nach ihr grausames Werk verrichten und die Seele freisetzen würden. (Falls es denn eine Seele gab; Krista war sich darüber nie ganz schlüssig geworden.)

So sehr Kristas unerwartete Auslassungen über den Tod Scott auch beunruhigt hatten - wie die meisten Menschen hatte er stets geglaubt, seiner Familie und ihm selbst könne niemals etwas zustoßen, wie ihm jetzt klar wurde -, hatte er eingewilligt: Sollte sie vor ihm sterben, würde er sie einäschern lassen. Es war ihm mehr darum gegangen, das Thema abzuschließen, als eine verbindliche Abmachung mit Krista zu treffen. Doch jetzt würde er sein Versprechen einlösen müssen.

»Kann ich irgendwo telefonieren?«, fragte er eine der Krankenschwestern an den Überwachungsgeräten. »Ich muss einige Ferngespräche führen.«

Die Schwester nickte, wobei sich ihr Gesicht aufhellte. Scott kam es so vor, als sei sie irgendwie erleichtert, was er zunächst befremdlich fand. Doch gleich darauf glaubte er zu verstehen. Seine Erfahrung als Arzt sagte ihm, dass bei der Besprechung, die der Stationsübergabe bei Schichtwechsel vorherging, vermutlich sein Name gefallen war, weil sich das Personal Sorgen um ihn machte. Diese Mädchen hatten in ihrer Ausbildung gelernt, bei betroffenen Familienangehörigen darauf zu achten, ob sie Anzeichen für die Bewältigung der traumatischen Situation zeigten. Bestimmt war ihnen aufgefallen, dass Scott es bislang kaum geschafft hatte, die nötigen Dinge zu veranlassen. Dass er jetzt zu Hause anrufen wollte, war ein gutes Zeichen.

Die Schwester brachte ihn zu dem Angehörigenzimmer, in dem Caroline übernachtet hatte. Mit den Doppelbetten, der Kommode und dem Fernseher auf einer drehbaren Konsole wirkte es wie ein winziges Hotelzimmer.

Sharon McVee, so hieß sie laut Namensschild, deutete auf das elfenbeinfarbene Tastentelefon auf dem Nachttisch zwischen den Betten. »Wählen Sie einfach die Null«, sagte sie. »Und teilen Sie der Dame am Empfang mit, dass Sie am internen Anschluss zwei-fünf-null sind. Dann gibt Sie Ihnen eine Leitung nach draußen und Sie können direkt durchwählen. Sie brauchen sich um nichts weiter zu kümmern, das ist kostenfrei.« Sie lächelte mitfühlend und gleichzeitig distanziert.

»Danke.« Scott ließ sich auf einem der Betten nieder und sah zu, wie Sharon McVee aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Dabei musste er daran denken, dass er ihrsicher nie begegnet wäre, hätte sein Leben nicht gewaltsam diese Wendung genommen.