Der Neurologe wich seinem Blick aus. »Ich verstehe. Ja, Sie haben da schon irgendwie Recht.« Er sah Kath an, die seinen Blick ausdruckslos erwiderte. »Fliegen Sie nach Hause?« »Ja, so bald wir können.«
»Dann wäre das vielleicht auch das Beste. Ich werde mich um die Entlassung Ihrer Tochter und die Medikation kümmern. Sie soll weiter krampflösende Mittel einnehmen, damit wir irgendwelchen weiteren Anfällen vorbeugen ... Aber natürlich«, plötzlich war es Franklin wieder eingefallen, »Sie sind ja selbst Arzt. Dann ist sie ja in besten Händen.« Mit einem Nicken verschwand er.
Als er gegangen war, trat in Kaths winzigem Zimmer eine peinliche Stille ein. Scott fiel nichts ein, was er seiner Tochter sagen konnte, ihm kamen nur Belanglosigkeiten und Plattitüden in den Sinn. Es war ein so fremdes und schreckliches Gefühl von Hilflosigkeit, dass sich bald darauf sein Magen nervös verkrampfte. Kath lag nur da, hatte ihren Arm um Jinnie geschlungen, zupfte immer wieder am Kleid der Puppe und flüsterte ihr etwas in ihr ausgefranstes Ohr. Scott fielen die Symptome von Regression bei seiner Tochter zwar auf, aber sie beunruhigten ihn nicht. Es war einfach ein Hilfsmittel, um mit der Situation irgendwie fertig zu werden, ein Mittel, das er, wie er glaubte, vielleicht selbst noch anwenden würde, bis dieser Albtraum irgendwann verblasste und die Zeit der inneren Genesung begann.
Es war Kath, die schließlich das Schweigen brach. Plötzlich setzte sie sich aufrecht hin und fixierte Scott mit einem Ausdruck purer Ratlosigkeit. »Daddy«, murmelte sie, »was sollen wir nur tun?«
Scott schwieg einen Augenblick und dachte nach. »Weitermachen, Kleines. Wir werden weitermachen.«
»Aber sie fehlt mir so. Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt machen soll, Daddy. Was kann ich tun?«
Scott beugte sich hinüber und hob seine Tochter - traurig überrascht über ihr kaum merkliches Gewicht - aus dem Bett. Kath hielt Jinnie an sich gepresst und schleifte den Tropf hinter sich her. Während sie sich zusammen auf den Liegesessel kuschelten, wiegte Scott seine kleine Tochter hin und her, wie zu den Zeiten, als sie noch Windeln getragen hatte. So blieben sie dort sitzen, bis Caroline etwa eine Stunde später zurückkehrte und eine Schwester mit dem auf Tabletts angerichteten Abendessen hereinkam.
Alle drei aßen mit Heißhunger. Caroline und Scott hatten seit vierundzwanzig Stunden keinen Bissen zu sich genommen, und bei Kath war es noch länger her. Im Unterschied zur üblichen Krankenhauskost war das Essen recht gut Es gab eine Scheibe schmackhaftes Roastbeef mit Sauce, Kartoffelbrei und Broccoli und als Nachtisch den unvermeidlichen gelben Wackelpudding.
Nach dem Essen begleitete Scott Caroline zurück ins Angehörigenzimmer. »Schlaf«, sagte er und küsste sie auf die Stirn, die so heiß war, als ob sie Fieber hätte. Caroline nahm dies alles sehr schwer und verschloss ihre Gefühle so fest in ihrem Inneren, dass es sie krank machte. Scott hoffte, dass er ihr bald würde helfen können. »Wir müssen da gemeinsam durch«, flüsterte er ihr zu. »Wir müssen einander da hindurchhelfen.«
Caroline nickte, legte sich aufs Bett und schlief auf der Stelle ein.
Während es dunkel wurde, verwandelten sich Formen in Schatten.
Kath lag auf der Seite, ihrem Vater zugewandt, der zusammengekauert auf einem Stuhl am Bett saß. Kaths blaue Augen waren von einem Schleier der Müdigkeit überzogen und zeigten, dass sie bald einschlafen würde.
»Danke, dass du Jinnie mitgebracht hast«, sagte sie und streichelte der Puppe über die pausbäckige Wange. Scott lächelte schwach. »Als ich im Auto aufgewacht bin und sie nicht da war, hat es mir eigentlich gar nicht so viel ausgemacht.« Sie drückte Jinnie an die Brust. »Aber jetzt bin ich froh, dass sie da ist. Wirklich froh.«
Scott rieb sich über die alte Narbe am Kinn, die aus irgendeinem Grund angefangen hatte, ihn zu nerven; ihm war so, als spüre er ein leichtes Brennen.
»Kannst du dich an den Unfall erinnern?« Er hatte die Worte ausgesprochen, ohne an die möglichen Folgen zu denken. »Kannst du dich daran erinnern, was passiert ist?«
Kaths Körper zuckte so, als habe sie ein Schlag getroffen. Sofort wurde Scott klar, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Das bisschen Farbe in ihrem Gesicht schwand sofort, und ihre Mundwinkel verzogen sich nach unten. Ihre erschrockenen, weit aufgerissenen Augen schienen durch Scotts Brust zu starren - vielleicht, weil ihr inneres Auge noch einmal alles abspulte. Ihre Finger gruben sich in Jinnies Rumpf. Dabei stand Scott plötzlich lebhaft die Sinnestäuschung vor Augen, die ihn zu Hause während des Gewitters so erschreckt hatte: Er sah die Puppe auf der Tischplatte vor sich, ihr Grinsen während eines Blitzes, die Füllung, ein hässlicher, grauer Bausch, der aus ihr herausgequollen war.
»Versuch dich zu erinnern«, hörte er sich selbst sagen, obwohl ihm gleichzeitig klar war, dass er das Thema besser für immer begraben hätte. »Versuch nachzudenken, Liebes, es ist wichtig.«
Kath presste die Augen heftig zusammen, nur eine einzige Träne trat glitzernd heraus. »Ich kann's nicht«, erwiderte sie kaum vernehmbar. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«
Plötzlich war ein dumpfes Plopp zu hören. Scott sah dass Kaths zusammengekrümmte Finger durch den Stoff des puppenkleides bis zur Füllung durchgestoßen waren.
Lass es sein, verdammt noch mal!
»Versuch es.«
»Wir sind gefahren ...«, sagte Kath mit Babystimme, »und haben gesungen ...«
»Große, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen«, sang sie mit einer Stimme, die ebenso wehmütig wie jenseitig klang. Die Stimme traf Scott so tief in seinem Inneren, als habe er gerade eine Botschaft aus dem Reich der Toten erhalten. Gleich darauf verdrehte Kath die Augen, während sich ihre Hände zu Fäusten ballten. Er wollte sie unterbrechen und gleichzeitig, dass sie weitermachte und ihm sagte, was sie gesehen hatte. Als er nach ihrer Hand greifen wollte, entzog sie ihm diese mit einem Ruck.
»Wir waren unterwegs und haben gesungen ... haben gesungen und sind gefahren und ... Ach, es tut mir so Leid, dass du jetzt tot bist, du armes altes Murmeltier... Und ... und dann ... haben wir ihn erwischt... Er war tot und wir haben ihn mit dem Wagen erwischt...«
»Wer war tot? Das Murmeltier?«
»Ich kann mich nicht daran erinnern!«, schrie Kath mit schriller Stimme. Und dann verzerrte sich ihr Mund zu diesem Bogen hellen Entsetzens, während ihr Gesicht zu zucken begann. Das Zucken breitete sich aus, wurde zu heftigem Zittern, das wie eine Welle durch ihren Körper lief.
Oh, mein Gott, sie bekommt wieder einen Anfall!
Doch als er sie in die Arme nahm und fest an sich drückte, ging die Krise vorüber. Kurz darauf entspannte sich ihr Gesicht und verzog sich danach zu einem Weinen.
Die Schwester, die bei Kaths Geschrei ins Zimmer geeilt war, ließ Scott wieder allein, damit er seine Tochter trösten konnte.
»Ich kann mich nicht daran erinnern, Daddy«, sagte Kath. »Wirklich nicht.«
Scott wiegte sie hin und her, behielt sie im Arm und versicherte ihr, das sei schon in Ordnung, es spiele keine Rolle. Irgendwann später ließ er sie aufs Bett zurücksinken wo sie, einen Arm liebevoll um Jinnie geschlungen, einschlief
29
Scott brachte den gemieteten Ford Pinto direkt vor dem lang gestreckten Schotterweg, der die Auffahrt zu dem Bauernhaus bildete, zum Stehen und betrachtete die durchgesackten, grauen Verschalungsplanken, die früher einmal weiß gewesen waren. Auf beiden Seiten des Hauses standen verwitterte, schwärzliche Außengebäude, die friedlich vor sich hin moderten. Auf der angrenzenden Weide drängten sich Kühe unter einer riesigen alten Eiche zum Schutz gegen den Nieselregen eng aneinander.