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Es war nicht schwer gewesen, das Bauernhaus zu finden. Holley hatte ihm den Weg genau beschrieben, und der mit großen schwarzen Lettern auf den Briefkasten gemalte Name war schon aus hundert Metern Entfernung zu lesen gewesen. Erst jetzt, als Scott überlegte, was er Clayton Barr sagen sollte - dem Mann, dessen rechtzeitiges Eingreifen Kath das Leben gerettet hatte — fragte er sich: Was mache ich hier überhaupt?

Tatsächlich war ihm das keineswegs klar. Abgesehen davon, dass er sich bei ihm bedanken wollte, hatte er keine Ahnung, was er eigentlich bei Mr. Barr suchte. Und er wusste auch nicht, wonach er später Ausschau halten sollte, wenn er, wie er sich vorgenommen hatte, zum Schauplatz des Unfalls hinausfahren würde. Ihm war lediglich bewusst, dass er jetzt hier war, dass er vom Krankenhaus hatte fliehen müssen, weg von Holley und dessen Formularen, die auf seine Unterschrift warteten, weg von der unsichtbaren Gegenwart eines Leichnams, der Kristas Hülle war. Holley hatte er mitgeteilt, er benötige die Adresse des Bauern, weil er kurz hinfahren und sich vor dem Abflug nach Kanada bei ihm bedanken wolle. Und natürlich war das auch keineswegs gelogen ...

Ach komm schon, drängte ihn eine innere Stimme. Du weißt doch, warum du in Wirklichkeit hier bist.

Scott holte die Zeichnungen aus der Hemdtasche - es war dasselbe Hemd, das er seit achtundvierzig Stunden Tag und Nacht getragen hatte - und faltete sie sorgfältig auseinander.

Ja, er glaubte zu wissen, warum er jetzt hier und nicht im Krankenhaus war, um dort die nötigen Dinge zu veranlassen. Es lag an diesen verdammten Zeichnungen und den bohrenden Fragen, die deren Existenz aufwarfen.

Als er auf die Zeichnungen blickte, wurde ihm eiskalt ums Herz.

Irgendetwas war auf die Windschutzscheibe des Volvo geprallt, so viel war sicher. Es war die einzige Erklärung für das Glas im Innenraum des Wagens. Es hätte ja etwas so Simples wie ein Steinschlag oder ein herausragender Ast sein können, aber Scott hatte im Wagen nichts entdeckt, das darauf hindeutete. Es gab auch keine Anzeichen dafür, dass irgendein großes Tier, beispielsweise eine Kuh wie bei Kristas erstem Unfall , in die Scheibe gekracht wäre. Es gab keine Hufspuren auf der Motorhaube, keine Fellbüschel an den ausgezackten Rändern der Windschutzscheibe, keine eingetrockneten Pfützen von Tierblut.

Doch das, was Scott wie ein Magengeschwür plagte, war der Grabstein auf der Zeichnung. Als er die Blätter in Ottawa zum ersten Mal betrachtet hatte, waren ihm nur die offensichtlich stimmigen Details ins Auge gefallen: der Wagen, der eindeutig ein Volvo war, die Frau und das Kind im Innenraum.

Die Fassungslosigkeit und der Schock, mit dem er auf Holleys Mitteilung reagiert hatte, der Wagen sei auf eine Friedhofsmauer geprallt, waren in den ersten Stunden nach diesem Gespräch nur unterschwellig präsent gewesen. Als sie später in Holleys abgedunkeltem Büro gesessen hatten, war die plötzliche Einsicht wie ein Schlag ins Genick gewesen. Allerdings hatte dieser Schlag einen Mann getroffen, der sowieso schon ohnmächtig und blutend am Boden lag. Erst als er in Holleys Mercedes vor der Texaco-Werkstatt gewartet hatte, begann die Erkenntnis in seinem Inneren zu arbeite aber selbst da hatte Kaths plötzliche Genesung den Gedanke vorübergehend verdrängt.

Doch als er letzte Nacht hellwach auf der Intensivstation gesessen hatte, war ihm die ganze Sache nach und nach ins Bewusstsein gesickert. Dass der Volvo tatsächlich auf eine Friedhofsmauer geprallt war, legte auf ebenso unheimliche wie faszinierende Weise nahe, dass der Friedhof auf der Zeichnung der von Hampton Meadow war; genau jener Friedhof, an dessen Einfriedung Krista den Tod gefunden hatte. Deshalb richtete sich Scotts Augenmerk jetzt fast zwanghaft auf den Grabstein und dessen Inschrift. Bis auf drei, vier lesbare Buchstaben, die sein Interesse geweckt hatten, war darauf nichts zu entziffern gewesen.

Gab es auf dem Friedhof von Hampton Meadow einen solchen Grabstein? Und falls ja, dann ... was? Und wie hatte sich der Unfall abgespielt? Warum hatte man ihm keine Untersuchungsergebnisse vorgelegt? Die Erklärungen, die Holley angeboten hatte - Krista sei vielleicht am Lenkrad eingeschlafen oder habe wegen zu hoher Geschwindigkeit womöglich die Herrschaft über den Wagen verloren -, waren angesichts der Glasscherben im Wageninneren offenkundig unzureichend. Scott wusste, dass Krista gern schnell fuhr, aber er konnte nicht glauben, dass sie unkonzentriert gefahren war, nicht mit Kath im Wagen. Und die von der Polizei mit der Untersuchung beauftragten Automechaniker hatten die Möglichkeit irgendeines bedeutsamen technischen Versagens ausgeschlossen.

Jetzt beschäftigte ihn mit nervtötender Hartnäckigkeit die Frage, wie es passiert sein konnte - noch mehr sogar als die lähmende Einsicht, dass Krista tot war. Enthielten die Zeichnungen irgendeinen geheimen Schlüssel dazu? Soweit es Scott betraf, hegte er keinerlei Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Zeichners. Die Vorhersagen, die der Alte auf bizarre Weise schwarz auf weiß festgehalten hatte, waren bislang bis aufs i-Tüpfelchen genau eingetroffen. Und solange eine Chance bestand, dass die Zeichnungen ihm noch mehr erraten konnten, fühlte sich Scott gezwungen, dem nachzugehen.

Nach einer weiteren schlaflos verbrachten Nacht hatte er bei Morgendämmerung genau gewusst, was er tun musste. Nachdem er Kath kurz geweckt hatte - nur um sich davon zu überzeugen, dass sie auch wirklich wieder aufwachte -, war er ins Foyer gegangen. Mit ein wenig Überredungskunst hatte er den Mann in der Telefonzentrale dazu gebracht, ihm einen Beeper mit großer Reichweite zu leihen und aufzuschreiben, dass Scott bei der geringsten Veränderung im Zustand seiner Tochter zu benachrichtigen sei. Er hatte ein Taxi zu der Hertz-Niederlassung in der Innenstadt genommen, den Ford Pinto gemietet... und jetzt war er hier.

Scott verstaute die Zeichnungen wieder in der Hemdtasche, legte einen Gang ein und lenkte den Pinto durch die matschige Auffahrt.

Die Fahrt vom Krankenhaus hierher hatte etwas Traumartiges an sich gehabt. Beim Fahren ertappte sich Scott eine Zeit lang dabei, dass er grinste und sich vorstellte - nein, tatsächlich glaubte -, er sei wieder fünfundzwanzig und auf dem Weg zu Kristas Wohnung in Sandy Point. Er würde sie abholen und zu ihrem geheimen Ort am Strand mitnehmen. Und dort würde er sie umarmen, küssen, ihren von der Schwangerschaft gewölbten Bauch streicheln und sie bitten, ihm eine zweite Chance zu geben. Die letzten Tage und Stunden hatte er wie in einem falschen Film verbracht, wie unter dem Einfluss irgendeiner verrückten psychedelischen Droge. Ja, vielleicht war es genau das: ein schlechter Trip. Irgendjemand, möglicherweise die Stewardess auf dem Flug von Montreal nach Boston, musste ihm heimlich eine Droge ins Getränk gemixt haben.

Während er mit knirschenden Reifen die Auffahrt entlangfuhr, erlebte er eine weitere Sinnestäuschung: Völlig plastisch standen ihm ähnliche Verschalungsplanken in Neufundland vor Augen, so dass er einen kurzen, wunderbaren Moment lang dachte, er werde gleich Krista lächelnd und mit ausgestreckten Armen auf sich zu stürmen sehen, um ihn willkommen zu heißen.

Aber statt Krista tauchte ein Mann mit gebeugtem Rücken und argwöhnischem Blick auf, und die Sinnestäuschung klärte sich zur traurigen Wirklichkeit. Als der Mann mit großen Schritten über den ungemähten Rasen kam, stob eine vom Nieselregen durchnässte, schmutzigweiße Gänseherde auseinander. Der Mann nickte ihm zu, aber seine Augen blickten noch argwöhnischer, als er Scotts ausgezehrte Gesichtszüge bemerkte. Er blieb mehrere Schritte vor dem Wagen stehen und sah zu, wie Scott ausstieg. »Verfahren?«, fragte Clayton Barr.

»Glaub ich nicht«, erwiderte Scott, sich seiner eigenen Stimme auf seltsame Weise bewusst. »Ich hätte gern mit Mr. Clayton Barr gesprochen.«

»Steht vor Ihnen.« Clayton streckte ihm die Hand hin, die Scott ergriff und schüttelte. Dabei fiel ihm sofort auf, wie schwielig und kräftig sie war. »Was kann ich für Sie tun, Mr.