»Meint ihr, dass er wirklich debil ist?«, wollte ein indischer Student mit leiser Stimme wissen.
Noch während Scott den Mund aufmachte, um zu antworten, kam ihm eine hohe, fast feminine Stimme zuvor. »Tja, meine verehrten Damen und Herren Doktoren, es sieht ganz so aus, als treffe diese Diagnose zu.«
Scott und sein Gefolge drehten sich um und sahen sich Dr. Bateman gegenüber, der die Frage auf seinem Weg durch den Flur zufällig mitgehört hatte.
Scott spürte, wie die alte Abneigung gegen seinen Kollegen in ihm hochstieg. Was seine Tätigkeit als Klinikpsychiater betraf, konnten Bateman nur wenige das Wasser reichen, und das wusste er selbst leider nur zu gut. Sein Ego hatte den Umfang eines Grizzlybären, und er war auch ähnlich grob, was die Zusammenarbeit mit ihm beinahe unerträglich machte. Schon hatte er - ohne sich auch nur durch einen Blick mit Scott zu verständigen - die Leitung der Diskussion an sich gerissen.
»Als dieser alte Herr vor zwei Wochen bei uns eingeliefert wurde, hatte er nichts bei sich als zerrissene Lumpen und einen Rucksack, der dieses Zeichenbrett, einen Haufen alter Zeichnungen und ein Bündel Bleistifte enthielt.« Bateman korrigierte den Sitz seiner Gucci-Krawatte und schnipste einen störenden Fussel vom Ärmel seines edlen Fischgrätjacketts. »Noch ehe die Arzte ein Untersuchungsergebnis hatten, erlangte er sein Bewusstsein wieder und legte mit seinen Zeichnungen los. Einer meiner Assistenzärzte hatte ihn in seiner Sprechstunde, diagnostizierte richtigerweise eine altersbedingte Geistesschwäche und ließ ihn zu uns verlegen. Er wird auf der Station für chronisch Kranke bleiben, bis man ihn in ein passendes Heim verlegen kann - vielleicht nach Saint Vincent oder in eine ähnliche Einrichtung.«
»Aber was ist mit seinen Zeichnungen? Jemand, der so ein künstlerisches Talent hat, kann doch nicht einfach altersschwachsinnig sein, oder?«, hakte der Inder nach.
Ein plötzlicher Ausdruck von Ratlosigkeit legte sich wie eine rasch vorüberziehende Wolke über Batemans Gesicht. Er strich sich nachdenklich über den Schnauzbart, bevor er antwortete. Seine Worte schienen ihm fast körperliche Schmerzen zu bereiten. Es war überaus schwer für Vince Bateman, eine Unsicherheit zugeben zu müssen. »Leider muss ich gestehen, dass ich in Bezug auf seine künstlerischen Arbeiten ratlos bin. Es könnten möglicherweise Handlungen sein, die aus seinem Unterbewusstsein hervorgehen und etwas mit seiner Vergangenheit zu tun haben. Vielleicht ist es etwas, das er früher ganz ohne Anstrengung oder viele Gedanken getan hat. Da diese Art von Altersdemenz in Zyklen auftritt, kann es auch sein, dass er nur in mehr oder weniger klaren Momenten zeichnet. Die Tatsache, dass er während dieser Phasen nicht kommuniziert, könnte auf einen anderen Defekt zurückzuführen sein, vielleicht auf Aphasie als Sekundärwirkung eines Schlaganfalls. Oder er hat ganz einfach beschlossen, seine Umwelt zu ignorieren.«
Die Ratlosigkeit war von Batemans Gesicht verschwunden und zeigte sich stattdessen auf den Gesichtern der Studenten. Typisch für Bateman, dass er einfach über die Köpfe der Neulinge hinwegredete.
Scott beschloss, Batemans Diagnose zu erläutern - er war sauer und wollte außerdem endlich nach Hause. »Damit, liebe Leute, will Dr. Bateman nur sagen, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, wie der alte Mann tickt. In mancher Hinsicht passt er perfekt in die Schublade für Altersdemenz.
Aber es gibt auch wesentliche Züge, die überhaupt nicht mit dieser Diagnose übereinstimmen.«
Batemans Gesicht lief rot an. Noch mehr als Unordnung hasste er es, wenn jemand anderes in aller Öffentlichkeit seine Worte richtig stellte. Scott musste den Kopf zur Seite drehen, um ein selbstzufriedenes Grinsen zu verbergen.
»Hier, in diesem Rucksack, liegt ein ganzer Haufen seiner Arbeiten«, bemerkte Bateman. Er deutete auf einen schweren Wollbeutel, der hinten am Rollstuhl hing. »Vielleicht möchten Sie das ja mal durchsehen. Die meisten sind ziemlich makaber und grausam und erinnern an Horror-Comics. Viele Zeichnungen scheinen sich auf Ereignisse aus den Nachrichten der letzten Zeit zu beziehen, hauptsächlich Katastrophenmeldungen. Übrigens ein weiterer Beweis, der meine Theorie zyklisch auftretender, geistig klarer Momente unterstützt. Wir nehmen an, dass er diese Geschichten im Radio hört und daraus eigene Comic-Versionen kreiert.« Danach zog sich Bateman mit den Worten »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden« zurück.
Und weg war er. Voller Elan schwebte er mit ausschweifenden, affektierten Schritten durch die Gänge - und Scott fragte sich zum wiederholten Mal, welchem Geschlecht dieser Mann wohl den Vorzug gab.
Immer noch in sich hineingrinsend, näherte sich Scott dem Rollstuhl. »Lassen Sie uns mal einige von denen hier anschauen. Und dann packen wir's für heute, einverstanden?« Während seine Studenten eifrig nickten, langte er in den Rucksack.
»Auuuuu-tsch!«, brüllte Scott und zog seine Hand hastig zurück. Aus seinem Zeigefinger quoll Blut, die Tropfen klatschten auf die Armlehne des Rollstuhls. Als einige auf dem nackten Arm des Künstlers landeten, schreckte der Alte wie bei einem Schlag zusammen. Andere Tropfen sprenkelten den Boden zu Scotts Füßen, was aber keiner bemerkte. Alle Augen richteten sich auf seinen Finger.
»Herrgott, noch mal ...«, schrie Scott auf und versuchte seinen Ausbruch gotteslästerlicher Flüche zu bremsen, während sein vorwurfsvoller Blick ins dunkle Innere des Beutels wanderte. »Was zum T— ...?«
Eine Studentin mit deutlichem Übergewicht und Spuren jugendlicher Akne zückte ein halb verbrauchtes Päckchen Papiertaschentücher und reichte es Scott hinüber. Gleich darauf spähte sie so vorsichtig in den Beutel, als rechne sie damit, etwas werde sie gleich anspringen. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass keine Gefahr drohte, steckte sie ihre Wurstfinger hinein und holte unter Rascheln ein Blatt Papier hervor, dessen Rand blutverschmiert war.
»Sie haben sich am Papier geschnitten«, bemerkte sie altklug und zog ein Bündel Zeichnungen heraus.
Der Zeichner blätterte zu einer neuen, leeren Seite vor und fuhr mit seinen Bleistiftzeichnungen fort, ohne dass er etwas von all der Aufregung mitzubekommen schien.
Scott untersuchte seinen Finger. Die Schnittwunde war schmal, aber erstaunlich tief. Mit einem kleinen Druckverband würde er die Verletzung schnell verarzten können, allerdings brannte sie höllisch. Während er auf den schmuddeligen alten Mann hinabblickte, überlegte Scott, wann er seine letzte Tetanus-Spritze bekommen hatte.
»Alles in Ordnung, Herr Doktor?«, fragte der Inder.
»Ist nicht weiter tragisch, es schmerzt nur ein bisschen.« Scott lehnte sich zu der übergewichtigen Studentin hinüber, die die Zeichnungen bereits durchblätterte. Trotz seiner Absicht, baldmöglichst nach Hause zu fahren, war sein Interesse durch die letzte Bemerkung Batemans erneut geweckt: Demnach bezogen sich einige der Zeichnungen auf aktuelle Nachrichtenmeldungen. Er schaute gespannt auf den Stapel Blätter, den das Mädchen Seite für Seite durchging.
Bateman hatte Recht gehabt. Viele der Skizzen waren recht makaber. In diesen Szenen schaufelten sich halb verrottete, Leichen schändende Ungeheuer aus Gräbern heraus, aufgedunsene Meereskreaturen grapschten aus veralgten Tiefen des Ozeans nach den Beinen ahnungsloser Badender, und irgendein großes, dunkles, wabberndes Etwas lauerte gierig unter dem Bett eines schlafenden Kindes.
Diese letzte Bildfolge erinnerte Scott an die nächtlichen Ängste, unter denen Kath bis vor kurzem gelitten hatte. Fast jede Nacht war sie zu völlig unchristlicher Stunde, um sich schlagend und schreiend, aufgewacht und hatte behauptet, irgendetwas sei unter ihrem Bett, irgendein schuppiges, feuchtes Wesen glibbere dort herum und greife nach ihren Zehen.
»Wie war's denn hiermit?«, unterbrach Scott seinen Gedankengang und hielt eines der Blätter mit der unversehrten Hand hoch. »Bestimmt erinnern Sie sich noch an die Dauerberichterstattung über das Flugzeugunglück der 747 in Uplands, ist ja noch nicht lange her.« Die Bilderfolge zeigte eine schnittige, riesige Boeing, die außer Kontrolle geriet, am Ende des Rollfelds hin und her schlitterte und, mit dem Bug voran, in einem angrenzenden Maisfeld in zwei lichterloh brennende Hälften zerbarst. »Sieht ganz so aus, als hätte Dr. Bateman Recht gehabt«, bemerkte er wie im Selbstgespräch.