»Bowman«, erwiderte Scott und wünschte sich dabei, ein anderer zu sein. »Scott Bowman.«
Claytons Gesicht verlor jeden Ausdruck und verdüsterte sich kurz darauf, wirkte fast kummervoll. Er streckte einen Arm hoch, als wolle er ihn Scott um die Schultern legen, ließ ihn dann aber wieder sinken. Seine Augen, aus denen jeder Argwohn gewichen war, blickten jetzt traurig und fixierten irgendeinen Punkt jenseits der Scheune.
»Kommen Sie herein, Scott«, sagte er. »Ist kein Tag, um im Hof herumzustehen.«
Scott fiel der o-beinige Gang des Mannes auf. Und dass der Nieselregen dessen grünes Arbeitshemd durchnässt hatte, so dass es an den Schultern viel dunkler wirkte. Er folgte ihm auf die überdachte Veranda. Dort hatte sich eine große, alte Katze mit buntscheckigem Fell in der Kuhle eines durchgesessenen Sofas zusammengerollt. Überall lagen dreckverschmierte Arbeitsstiefel herum. Auf der Armlehne eines zerschlissenen Sessels lag eine zusammengefaltete Zeitung neben einer halb geleerten Bierflasche. Aus dem Inneren des Hauses war leise Radiomusik zu hören, eine sentimentale Country-Ballade, die eine Mädchenstimme völlig falsch mitsummte.
Clayton griff nach dem Bier. »Setzen Sie sich doch.« Er deutete auf den Sessel, scheuchte die Katze weg und nahm ihren Platz auf dem Sofa ein, dessen rostige Sprungfedern unter seinem Gewicht ächzten. »Helen«, rief er, das Radio übertönend, »bring uns zwei kühle Bierchen, ja?«
Scott ließ sich schwerfällig in dem zerschlissenen Sessel nieder, der immer noch Claytons Körperwärme ausstrahlte. Der Beeper an seinem Gürtel drückte ihn in die Seite. Mit schüchternem Lächeln brachte ein Mädchen, das achtzehn Jahre alt sein mochte und recht bieder wirkte, das Bier auf die Veranda hinaus. Clayton sprach erst, als sie wieder gegangen war.
»Schreckliche Tragödie, Scott.« Er beugte sich vor und zupfte am Etikett der Bierflasche. »Mir ist klar, dass es kein Trost für Sie ist, aber ich glaube, ich weiß, was Sie durchmachen. Vor Jahren hab ich meine Sally verloren, als sie da drinnen Helen zur Welt gebracht hat« Er wies mit abgespreiztem Daumen zur Küchentür. »Sie war nicht viel älter als Helen jetzt. Es tut weh, tut schrecklich weh. Und es gibt keine Worte, die das mildern könnten.« Er schwieg eine Weile, ehe er fragte: »Was führt Sie hierher?«
Scott starrte auf sein Bier. »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken ...« Und dann setzte er verzweifelt nach: »Können Sie mir sagen, was passiert ist? Was meinen Mädchen zugestoßen ist?«
Clayton nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, mein Freund. Nur das, was ich selbst gesehen und gehört hab.« Er wandte seine dunklen Augen zum Hof. »Konnte letzte Nacht nicht schlafen, saß deshalb hier draußen, genau da, wo Sie jetzt sitzen. Hab ein Bier getrunken und ... an meine Sally gedacht, glaub ich. Tja, hab über mein Mädchen nachgedacht. Es war völlig still ist mir aufgefallen. Wahrscheinlich hat mich die Stille dazu gebracht, an Sally zu denken.« Als Clayton seinen Sitz verlagerte, beschwerten sich die rostigen Sprungfedern des alte Sofas. »Es war völlig still. Ich meine, es hat nicht mal 'ne Grill gezirpt. Seltsam, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Einfach totenstill, außer dass ab und zu ein Sattelschlepper auf der fünfundneunzig vorbeigebrummt ist.
Und dann hör ich plötzlich dieses durchdringende Hupen Irgend so ein Esel, denk ich noch, vielleicht einer von den Teevens-Jungs, der da durch die Gegend fährt. Aber diese Hupe dröhnt weiter und weiter und erschreckt inzwischen schon die Kühe. Naja, ein Weilchen hab ich es einfach nicht beachtet, wissen Sie. Aber als das zehn oder fünfzehn Minuten so ging, kam mir der Gedanke, dass es vielleicht einen Unfall gegeben hat. Also bin ich mit der Taschenlampe über das Südfeld zur Landstraße fünf - die haben Sie sicher auch genommen, von der Schnellstraße aus, nur vom anderen Ende her.
Und da hab ich Ihren Wagen entdeckt. War auf die Friedhofsmauer geprallt, unten am Fuß des Hügels.« Clayton schwieg kurz. Offenbar machte ihm die Erinnerung daran zu schaffen. »Meine Güte, mir war ganz schön mulmig, als ich da auf der Straße stand und zu dem Wagen hinuntersah, wo sich nichts rührte und die Hupe immer noch dröhnte. Will ja nicht wie ein Waschlappen klingen, ich meine, ich hatte keine Angst vor dem, was ich vielleicht sehen würde. War nur so ein Gefühl, mehr kann ich dazu nicht sagen ... Aber am liebsten hätte ich auf der Stelle kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Es lag was in der Luft, weiß nicht, was. Irgendein Geruch. Es stank nach Verwesung, aber so, als sei sie schon sehr weit fortgeschritten. Wissen Sie, was ich meine?«
Scott erwiderte nichts, dachte jedoch an den Geruch in der Umgebung von Kristas Leichnam und den ganz ähnlichen Gestank im Wagen.
»Schließlich hab ich mir da draußen selbst gut zugeredet:
Komm, schon, Clay, sag ich, setz deinen Arsch, in Bewegung. Angenommen, jemand ist verletzt?!«
»Haben Sie in der Nähe irgendwas gesehen?«, fragte Scott. »Vielleicht irgendetwas, das sie mit dem Wagen erwischt haben könnte? Ein großes Tier ... oder sonst etwas?«
»Na ja, irgendwas hab ich tatsächlich gesehen oder hab's zumindest geglaubt, denn genau in diesem Moment hat sich eine Wolke vor den Mond geschoben. Irgendwas hat sich auf dem Friedhof gerührt.«
»Was war es?«, fragte Scott mit erhobener Stimme, in der eine leichte Drohung mitschwang. »Was haben Sie gesehen?«
»Kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Kommt immer mal wieder vor, dass irgendwelche Kühe ausbüxen und sich auf den Friedhof verirren, wo sie auf der Wiese grasen ...«
»Also gut, wie sah's denn aus?«, bohrte Scott weiter.
Der Argwohn stahl sich erneut in Claytons Augen. »Kann ich nicht sagen, mein Freund. Könnte ein Tier gewesen sein, vielleicht auch nur ein Schatten oder meine alkoholisierte Fantasie.«
Oder ein Mann, sagte sich Scott und dachte an die Zeichnungen. Konnte es sein, dass sie einen Mann mit dem Auto erwischt hatte? Das kam ihm recht unwahrscheinlich vor. Falls ja, wo war er jetzt? Einen solchen Zusammenstoß konnte doch sicher niemand überlebt haben.
Clayton nahm einen großen Schluck Bier, so dass es gluckerte, und wartete ab, ob Scott noch mehr sagen würde. Aber dessen Augen hatten sich mit einem Schleier überzogen, wirkten gedankenverloren und entrückt.
»Ihre Frau war schon tot«, sagte Clayton. »Gott sei ihrer Seele gnädig. Und Ihre kleine Tochter ... Naja, sie stöhnte und ...«
Er brach mitten im Satz ab und wandte seinen Blick dem Kater mit den ausgefransten Ohren zu, der sich an seinen Knöcheln rieb.
»Und was, Mr Barr?«
»Naja, sie hat gestöhnt und irgendwie vor sich hin gestarrt.
Der Mund war aufgerissen und seltsam verzerrt, als ob sie schreien wollte, aber es kam kein Ton heraus.«
Scott kannte diesen Gesichtsausdruck. Als er aufstehen wollte, streifte er mit dem Ellbogen die unberührte Bierflasche, so dass sie hinunterfiel. Aufschäumendes Bier schoss heraus und verteilte sich mit gelblichen Blasen in kleinen Pfützen auf dem Boden. Er erstarrte mitten in der Bewegung, was so wirkte, als habe man mit einer Polaroid-Kamera einen Mann im Bild festgehalten, der in diesem Moment von einem Sessel aufsteht ... oder vielleicht gerade Platz nimmt. Scott hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte.
»Machen Sie sich nichts daraus!«, sagte Clayton und stand ebenfalls auf. »Helen wird's aufwischen.«
»Können Sie mich dorthin bringen?«, fragte Scott. »Dorthin, wo's passiert ist?«
»Jetzt gleich?« Clayton warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Ist noch ein bisschen früh für's Mittagessen, aber wir könnten Ihnen 'nen kleinen Imbiss anbieten ... Da draußen gibt's nichts für Sie zu sehen, gar nichts, mein Freund.«
Scott wandte sich zur Außentür der Veranda. »Nein, danke, Mr. Barr.« Er trat in den Nieselregen hinaus. »Ich find's schon allein.«