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Denn Marissa Rowe, bei ihrer Beerdigung zehn Jahre alt, war am 12. Juli 1972 gestorben. Genau an dem Tag, als Scott und seine Freunde mit Scotts Volkswagen, dem alten Käfer, ein Kind umgefahren und getötet hatten.

Ein kleines Mädchen, das sie damals für nicht viel älter als zehn Jahre gehalten hatten ...

So alt wie Kath.

nein

Scotts Beine gaben unter ihm nach. Als er sich hart auf Marissa Rowes Grabstelle setzte und das Kinn am gebeugten Knie aufschlug, gruben sich seine Zähne schmerzhaft in die Lippen. Er spürte, wie er ins Rutschen kam und näher auf den Grabstein zu glitt, als werde er gezogen. Und jetzt sickerte ihm auch noch etwas Nasses vom Kinn, dessen Tropfen sich auf dem klammen Handrücken verteilten. Blut? Ja, es war Blut und ...

... Glasscherben flogen herum und stachen wie wütende Hornissen und das Kind brach mit dem Gesicht durch die Windschutzscheibe und als wir ausstiegen war sie bereits tot aber es war niemand in der Nähe und es stand so viel auf dem Spiel unsere Karrieren unsere Zukunft das war uns allen klar...

... also sind wir davongelaufen.

Scott, der immer noch rücklings auf dem Boden lag, krabbelte auf Händen und Füßen von der Grabstelle fort und versuchte der Erinnerung, die ihn jetzt einholte, zu entfliehen.

In jener Nacht hatten sie sich verfahren, sie konnten sonst wo gelandet sein, sogar irgendwo hier in der Nähe ...

Jemand muss uns gesehen haben, dachte er aufgeregt und befühlte seine aufgespaltene Lippe. Irgendjemand hat uns gesehen und rächt sich jetzt an uns.

Das ist doch Irrsinn, wandte der letzte Rest von Vernunft, der ihm verblieben war, dagegen ein, völliger Irrsinn ... Wie konnten sie (und wer waren sie überhaupt?) Krista dazu gebracht haben, genau diese Straße zu nehmen? Und warum eine derart ausgeklügelte und so lange aufgeschobene Rache? Wie hätte irgendjemand derartig unberechenbare und nicht miteinander verknüpfte Ereignisse so geschickt inszenieren können?

Trotz dieser Einwände der Vernunft bestand Scotts Kopf darauf, einen höchst finsteren Plan zu rekonstruieren. Ihn verfolgte die verrückte Vorstellung, irgendjemand könne seinen beiden Frauen seit ihrer Abfahrt von zu Hause gefolgt sein. Mit der Absicht, sie zu entführen. Wozu Gelegenheit war, als sie anhielten, um zu tanken oder zu Mittag zu essen.

Und dann hatte man die beiden gezwungen, hierher zu fahren, und sie ohne jede Erklärung am anderen Ende diese Nebenstraße ziehen lassen. Vielleicht waren die Entführe sogar so brutal gewesen, Marissa Rowes Leichnam zu exhumieren und irgendwo an der Straße aufzubauen. Im Dunkeln mochte Krista die Leiche für einen lebenden Menschen gehalten haben, vor allem, falls der oder die Entführer den Leichnam am Fuß des steilen Buckels platziert hatten Clayton hatte gesagt, er habe das Hupen zehn oder fünfzehn Minuten ignoriert. Erst danach war er hierher gegangen, und das musste noch einmal zehn Minuten gedauert haben -genügend Zeit also, um alle verdächtigen Requisiten zu beseitigen. Und später hatten sie die sterblichen Überreste des Kindes vielleicht wieder begraben ... War es das, was ich bei Krista gerochen habe ? Und auch im Auto? Während seine Gedanken durcheinander wirbelten, rappelte sich Scott unsicher hoch und blieb im Regen stehen, der sich inzwischen zu einem heftigen Schauer ausgewachsen hatte. Nochmals nahm er sich die Zeichnungen vor, bis ein Windstoß sie ihm aus den Händen riss und davontrug.

Es musste so sein. Irgendjemand hatte vor sechzehn Jahren am Straßenrand gekauert und sie gesehen, sich das Nummernschild des Volkswagens gemerkt und danach abgewartet, lange und mit unerschütterlicher Geduld abgewartet - wie Scott selbst es vielleicht auch getan hätte, wenn Kath so etwas zugestoßen wäre ...

Nachdem das taube Gefühl aus Scotts Beinen gewichen war, machte er sich auf den Rückweg zum Wagen. Wenn jemand hinter Kath her war, dann war sie in Gefahr, sobald sie allein war, selbst im Krankenhaus. Doch mitten auf dem Weg drehte er um und eilte auf den Friedhof zurück, um nach den Zeichnungen zu suchen. Plötzlich konnte er sich nicht mehr vorstellen, wie er ohne sie weitermachen sollte. Die Zeichnungen waren die einzige handgreifliche Verbindung zu dem irrsinnigen Komplott, das er aufgedeckt zu haben glaubte, der einzige Beweis dafür, dass er nicht völlig übergeschnappt war.

Er fand die Blätter zerfetzt und völlig durchnässt an der Steinmauer wieder. Jenseits der Einfriedung, durch Lücken in den ausladenden Bäumen gerade noch zu erkennen, bemerkte er eine kleine Straße, die zwar gepflastert, aber offenbar schon seit Jahren nicht mehr benutzt war. Der von der Sonne ausgebleichte Asphalt wies viele Risse auf, in denen wilde Gräser und Wolfsmilch sprossen. Ein verwittertes, schiefes und von Patronen durchsiebtes Holzschild wies die Straße als OLD BURWASH ROAD aus.

Und wieder spulte sein Gedächtnis Jahre zurück, bis zum Abgrund der Hölle, wo ...

... sie, mit einem Schlag hellwach, im Auto saßen. Der Rausch verflog und die Müdigkeit wich, weil ihnen allen ihre missliche Lage bewusst wurde. Auf dem Rücksitz fummelte Jake mit der Straßenkarte herum, die er beim Versuch, sie aufzuklappen, zerriss. Und während er mit der Karte kämpfte, kreischte er mit hoher, überdrehter Stimme: Wo sind wir überhaupt ? Was ist das für eine Straße ? Old Burwash, blaffte Scott zurück ... Old Burwash Road ...

Scott geriet ins Stolpern, fast wäre er hingefallen.

Und plötzlich war es so, als sei er durch die fragile Schicht gebrochen, die geistige Gesundheit von geistiger Umnachtung trennt. Das Summen in seinem Kopf wurde plötzlich ohrenbetäubend laut, verschluckte die Geräusche in seiner Umgebung und verzerrte sie gleichzeitig wie durch einen Lautsprecher: das leise Seufzen des Windes, das regelmäßige Tropfen des Regens, das Pochen seines Herzens, das gegen seine Rippen schlug. Als er sich bückte, um die Zeichnungen aufzuheben, schienen die Cartoons für einen Augenblick zum Leben zu erwachen. Körper in verschiedenen Stadien der Verwesung bahnten sich einer nach dem anderen mit den Schultern den Weg aus der bebenden Erde. Er meinte, sie zu hören und zu riechen. Dieser Moment war so irreal, dass er sich mit einem Ruck umwandte, um die Gräber hinter sich ins Visier zu nehmen.

Aber unter dem sterbenden Gras und den anwachsenden Regenpfützen lag die Erde völlig unberührt da und breitete den schweren Mantel des Todes über die Dahingeschiedenen.

Scott lehnte sich gegen die Mauer aus Feldsteinen, presste die klammen Finger gegen die Schläfen und wartete darauf dass sich das Hämmern in seinem Kopf endlich legte. Als es zu einem erträglichen Pochen abgeebbt war, stieg er über die niedrige Einfriedung und machte sich zitternd und mit großen, steifen Schritten auf den Weg durch die Old Burwash Road. Der spätsommerliche Regen ließ ihn bis ins Mark frösteln.

»Ist sie tot?«

Rund fünfhundert Meter westlich der Stelle, an der er über die Friedhofsmauer gestiegen war, blieb er stehen. Als er zu Boden schaute, meinte er, auf dem Asphalt ganz schwach einen fast kreisrunden Fleck zu erkennen.

Und dann stand Brian Horner hinter ihm und fragte wieder und wieder: »Ist sie tot? Ist sie tot?« Seine Stimme war schrill vor Entsetzen. »Ist sie tot?«

Kurz vor der Morgendämmerung standen sie im leichten Nebel herum, verängstigt und wie zu Standbildern erstarrt. Alle drei beugten sich über den steifen Körper des Kindes und sahen zu, wie sich die rote Pfütze, die den zarten Kopf wie ein Heiligenschein umgab, immer weiter ausbreitete. In ihrem hübschen, weißen Sommerkleid voller Rüschen und Spitzen lag die Kleine zusammengekrümmt auf der Seite. Ein Bein war völlig unnatürlich verdreht. Die Arme hatte sie vor sich gestreckt, als hätte sie noch versucht, sich irgendwo festzuhalten, während sie sterbend durch die feuchte Morgenluft gesegelt war. Sie hatte schneeweiße Söckchen getragen, aber am verdrehten Bein war das Söckchen halb vom Fuß gerutscht. Die Wucht des Aufpralls hatte sie auf der Stelle aus den frisch geputzten Sonntagsschuhen geschleudert. (In diesem Augenblick wurde Scott klar, dass es tatsächlich Sonntag war. Sie war bereits für den Kirchgang angezogen gewesen.) Ist sie tot ?