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Das Kätzchen, dem sie nachgelaufen war, kam aus dem Schatten geschossen und miaute dabei zum Herzerbarmen -eine winzige, von Gott und der Welt verlassene Kreatur. Aber als der Wind das seidige Haar der Kleinen erfasste, sprang das Kätzchen munter vorwärts und schlug spielerisch nach den durcheinander wirbelnden silberweißen Strähnen.

Scott, der sich so fühlte, als müsse sein Kopf gleich platzen, kniete sich an ihre Seite und legte einen Finger auf ihre Halsschlagader. Jedes bisschen Empfindsamkeit, das er noch besaß, konzentrierte er auf die Fingerspitze. Dazu murmelte er innerlich Gebete, die er seit vielen Jahren, allzu vielen Jahren, nicht mehr gesprochen hatte.

Aber er konnte nichts spüren, nichts als weiche Haut und nachlassende Wärme. Als er sich zu seinen Freunden umdrehte, die im Hintergrund immer noch warteten und fast wie gesichtslose Silhouetten wirkten (wie eine Schar von Gespenstern, hatte er später gedacht - jetzt fiel es ihm wieder ein), standen Tränen in seinen Augen.

Er wandte sich wieder dem Kind zu und stellte dabei seltsam distanziert und mit medizinischer Nüchternheit fest, dass es ein Albino war. Gleich darauf geriet die Welt ringsum aus den Fugen und schwand aus seinem Blickfeld, als sich nach und nach Dunkelheit über ihn senkte. Und dann gruben sich kräftige Finger in seine Schultern, und die Stimme eines Wahnsinnigen schleuderte ihm hart und zischend irgendwelche Worte entgegen.

»Werd mir bloß nicht ohnmächtig, du Arschloch. Wir müssen hier weg, Mann, und zwar sofort. Das ist dir doch klar, oder?« Jake Laking. »Da hinten bei den Bäumen leuchtet irgendwas, ich nehm an, es ist das Außenlicht einer Veranda. Allerdings glaub ich nicht, dass uns irgendwer gesehen hat.« Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten wie die eines Raubtiers. »Wenn wir hier bleiben, sind wir geliefert. Komm schon, steh auf. Sofort!«

»Er hat Recht, Scott«, sagte jemand mit schwankender Stimme. Brian. »Lieber Gott, er hat ja Recht... Bitte!«

Und er hatte wirklich Recht, oder? Hier bleiben war gleichbedeutend mit einer unvorstellbar harten persönlichen Katastrophe. Das Kind war tot - und für Tote kann man sowieso nichts mehr tun. Um sicherzugehen, tastete Scott nochmals nach der Halsschlagader des Mädchens. Immerhin war es ja möglich, dass er den lebenswichtigen Pulsschlag beim ersten Mal nicht richtig registriert hatte. Schließlich war er ja noch kein Arzt; das hier hatte er doch nur aus dem Fernsehen, verdammt noch mal. Da machten sie das immer, selbst in Western.

Aber da war nichts, war kein Puls. Und selbst die Wärme, die er eben noch gespürt hatte, war kaum noch wahrzunehmen. Jetzt mussten sie an sich denken.

Mussten sich aus dem Staub machen.

Das Kätzchen leckte an dem klebrigen, unheimlichen Blut und schnurrte dabei wie ein Motor ... der Motor eines Volkswagens. In diesem Moment merkte Scott, dass er ganz allein neben dem Opfer seiner Tat kniete. Die anderen hatten sich in den Wagen geflüchtet. Jake saß starr und steif hinter dem Lenkrad, Brian hatte sich auf dem Rücksitz zusammengekauert.

Heftig hin und her schwankend, blieb Scott an Ort und Stelle stehen, unfähig, den Blick von dem seelenlosen Körper abzuwenden, für dessen Tod auf der Straße er verantwortlich war.

Und dann rannte auch er davon.

Er stolperte über einen winzigen verlorenen Schuh, fiel so hin, dass er alle viere von sich streckte, rappelte sich wieder hoch und zwängte sich wie ein Dieb in den wartenden Wagen.

Doch vorher merkte er noch, dass hinter den Bäumen ein gelbliches Licht flackerte.

Scott wandte den Blick von dem unheimlichen Fleck auf der Straße zum regenfeuchten Wald, wo er ein Gebäude ausmachen konnte. Von seinem Standort aus sah er einen Teil des mit schwarzen Schindeln gedeckten Daches. Niedergeduckt, nach hinten geneigt, mit einem einzigen verrotteten Giebel und einer verglasten Veranda ähnelte es eher einer Hütte als einem Haus. Als Scott völlig durchnässt und zitternd in die von Unkraut überwucherte Lichtung trat, die das Gebäude umgab, merkte er, dass hier niemand mehr wohnte. Irgendwann einmal, es musste Jahre her sein, hatte jemand das Gebäude auf Pfahle gebockt. Wahrscheinlich, um es gegen Überschwemmungen zu sichern. Allerdings hatte sich eine der Holzstützen längst verlagert, so dass sich das Gebäude jetzt bedenklich zur Seite neigte.

Scott befand sich am Rande dessen, was früher wohl einmal der hintere Garten gewesen war. Links von ihm, quer über einer Pfütze, standen die rostigen Überreste einer Kinderschaukel. Unter einer Trauerweide verrottete eine aus Fässern zusammengenagelte, niedrige Hundehütte. Auf der kleinen Terrasse vor der Hintertür gammelten eine uralte Ringer-Waschmaschine, ein bejahrter Holzstuhl und ein verrostetes Dreirad vor sich hin. Über der Tür, die nur angelehnt war, hing eine nackte Glühbirne, wundersamerweise völlig unversehrt. Der düstere Eingang war kreuz und quer mit Spinnweben überzogen.

Ist es wirklich die Old Burwash Road gewesen?, fragte sich Scott, während modriges, schaumiges Wasser seine Schuhe durchtränkte. Kann es nicht auch irgendeine andere Old ... irgendwas Road gewesen sein? Geht vielleicht meine Fantasie mit mir durch, erschöpft und übermüdet, wie ich bin? Ist es wirklich hier gewesen?

Völlig durcheinander machte sich Scott mit hastigen, großen Schritten auf den Weg durch den Garten. Wie jemand, der sich beobachtet glaubt, blickte er, nervös von einer Seite zur anderen, wieder und wieder. Am Haus angekommen, warf er sich mit der Schulter gegen die Hintertür, hielt aber plötzlich inne, weil sich sein ungutes Gefühl mit einem Mal verstärkte.

Was hoffe ich, hier zu finden ? Was kann schon Gutes dabei herauskommen f Besser, ich verschwinde auf der Stelle und fahre nach Danvers zurück, zum Krankenhaus, zu meinem Kind, zu dem Einzigen, das in meinem Leben noch etwas bedeutet.

Wie unter einem Zwang sah Scott erneut zur Tür. Mit den Jahren hatte sie sich gewölbt, und der Rahmen war so schräg verzogen wie das gesamte Gebäude. Eigentlich hätte sie sich nach innen öffnen müssen, aber als Scott es probierte, kreischte sie laut auf, weil Holz auf Holz rieb, und verklemmte sich dann. Mit eingezogenem Bauch gelang es ihm, sich durch den Spalt zu quetschen.

Er fand sich in einer verstaubten, düsteren Küche wieder, in der man kaum etwas sehen konnte, weil nur vom angrenzenden Gang her diffuses, graues Licht hineindrang. Früher einmal war der Boden mit Linoleum im Schachbrettmuster ausgelegt gewesen, aber inzwischen war es größtenteils abgeblättert und gab den Blick auf die Holzbohlen frei. Von staubigen Spinnweben überzogen, lagen überall leere Whisky-Flaschen herum. In der Ecke stand ein Holzofen, daneben lag ein umgekippter Küchentisch aus Chrom und Kunststoff. Es gab nur ein einziges Fenster, das sich über der Spüle befand, und das war mit Holzbrettern verschalt.

Hau ab, drängte ihn sein Verstand. Mach, dass du hier weg kommst. Verschwinde!

Mit gesenktem Kopf und weichen Knien trat Scott auf den schmalen, düsteren Gang hinaus, in dem Girlanden von Spinnweben schaukelten. Die Schräglage von Boden und Wänden nahm ihm die sowieso schon beeinträchtigte Orientierung, so dass ihm alles bizarr und unwirklich vorkam. Er fühlte sich wie in einem Spiegelkabinett, das die Perspektiven verzerrt Scott bewegte sich so vorsichtig, als seien ihm Verfolger auf den Fersen. Unter seinen Füßen knackten lose Holzbohlen, knirschten Glasscherben. Hinter den mit Mörtel verputzten, rissigen Wänden huschte irgendetwas hin und her - vielleicht auf der Flucht vor ihm, vielleicht auch nicht Als er auf halbem Weg die Hände ausstreckte, blieben unzählige Spinnweben daran hängen. Überall klebten die Hüllen toter Insekten in der grauen Masse.