Schritt für Schritt schob er sich zu dem Rechteck schwachen Lichts an der Stelle vor, wo sich der Gang zur Treppe hin weitete und der Eingang zum Wohnzimmer lag. Als er nach links in den überwölbten Gang schwenkte, stieß er mit dem Zeh gegen etwas Hartes. Was folgte, war eine kurze, aber laute Kettenreaktion: Eine gelockerte Holzbohle, die sich wie ein Schlagbaum quer über den Treppenaufgang gelegt hatte, stürzte auf einen Tragbalken, so dass beides, viel Staub aufwirbelnd, mit Donnerhall zu Boden krachte.
Danach herrschte völlige Stille, bis auf den Dauerregen, der gegen die zerbrochenen Fensterscheiben klatschte. Es dauerte eine Weile, bis sich der uralte Staub wieder gelegt hatte. In dichten Schwaden wirbelte er wie Abendnebel über einem Moor durchs Zimmer. Nach und nach drang das spärliche Licht, das durch die Sprossenfenster sickerte, wieder hindurch und verlieh den Gegenständen in seinem Umkreis einen bläulich-weißen Schimmer.
Mitten an der hinteren Wand, wegen der Staubschwaden kaum zu erkennen, wölbte sich ein niedriger Bogen, der von der Form her an eine venezianische Brücke erinnerte. Darunter gähnte ein schwarzes Loch. Zuerst dachte Scott, es sei nur irgendein zufällig symmetrischer Schaden an der Wand. Aber als er näher heranging, sah er, dass die Wand nicht beschädigt war, sondern dass dort tatsächlich eine Öffnung klaffte, die Öffnung eines riesigen Kamins, die das Maul eines in Stein gemeißelten Löwen darstellte. Der massive, gewölbte Rachen des Königs der Tiere wirkte so, als habe er den ganzen Raum verschlucken wollen und sei in diesem Moment erstarrt.
Und Scott hatte genau das schon mal irgendwo gesehen.
Das Zimmer, den Löwen, die ganze Szenerie.
Aber wo?
Gleich darauf fiel es ihm plötzlich wieder ein. Der Zeichner. Die Serie von Zeichnungen, die der Alte - fast vorsätzlich, wie es Scott damals vorgekommen war - bei ihrer ersten Begegnung am Freitagnachmittag hatte zu Boden fallen lassen.
Dieser Kamin, dieser Raum und ...
Die Holzbohlen des Fußbodens. In dieser Serie von Cartoon hatte ein Mann die Holzbohlen aufgehackt. Und entdeckt dass ...
Mit vor Angst weichen Knien stolperte Scott durch den schiefen Gang zurück. Dabei nervten ihn die Fetzen von Spinnweben, die ihm an den Armen und im Gesicht hängen blieben. Als er um die Ecke gebogen war und in die Küche trat, stieß er mit dem Ellbogen an ein Regal voller Tontöpfe, die alle herunterfielen und auf dem Fußboden zerschellten.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte er jeden Winkel des voll gestopften Raumes ab, stieß dabei irgendwelche Gegenstände um oder schob sie auf die Seite. In der Holzkiste neben dem Ofen fand er schließlich, was er gesucht hatte. Eine Axt.
Sofort eilte er ins vordere Zimmer zurück und schwang dabei die Axt über dem Kopf. Wie im Fieberwahn holte er zum ersten gewaltigen Schlag aus.
Als die Holzbohlen unter der Wucht dieses Schlages zersplitterten, merkte er, wie ihn die letzten Reste klaren Verstandes verließen. Beim nächsten Schlag drang ein primitives Brüllen aus seinem Mund. Er beugte sich hinunter, um sein Zerstörungswerk zu inspizieren. Der Staub stieg in solchen Schwaden auf, dass er kaum noch atmen konnte. Wie Blut, das in kaltes Wasser rinnt, wirbelten die Staubwolken durch die Lichtbahnen, die vom Fenster aus ins Zimmer drangen. Scott ließ seine ganze Seelenqual, das Gefühl von Verlust und die Wut am Fußboden aus, den er mit dem verrosteten Blatt der Axt bearbeitete. Sein Atmen verwandelte sich in ein raues Hecheln, das an die Geräusche einer Maschine erinnerte. Der Staub hatte seine Kehle so ausgedörrt, dass sie schmerzte.
Mühelos ließen sich die alten, verwitterten Holzbohlen lösen. Irgendwann geriet Scott ins Stolpern, und dabei fiel die Axt in den breiten Spalt im Fußboden, der einem ausgehobenen Grab ähnelte. Als er sich bückte, um nach der Axt zu greifen, flatterte eine im Schlaf aufgeschreckte Fledermaus heraus und schoss an ihm vorbei, mitten durch die Staubschwaden. Ohne darauf zu achten, setzte Scott sein Zerstörungswerk fort, wahrend Tränen an seinen staubigen Wangen herunterrannen und dort Spuren hinterließen.
Nachdem die Luft sich aufgeklart hatte und wieder trübes Licht in den Raum sickerte, war der halbe Fußboden aufgerissen. Jetzt stießen Scotts Füße gegen etwas Trockenes, Brüchiges - und dabei fielen ihm die letzten Cartoons der makabren Serie ein.
Die Gestalt auf der Zeichnung hatte einen mumifizierten Leichnam entdeckt, dessen Herz von einem Fleischermesser durchbohrt war. Die toten Finger hatten etwas Flaches an die Brust gedrückt.
Und genau das befand sich unter seinen Füßen.
Scott griff hinunter und löste das Bündel aus den verdorrten Armen, die es umklammerten. Als er die Augen in den eingesunkenen Höhlen sah, die wie aus dem Schädel gelöste Eiskugeln wirkten, fiel ihm Dr. Holley ein: Ist sie das? Ist das Ihre Frau?
Das Bündel bestand aus einer Decke, die ein Buch umhüllte. Es war ein großes Sammelalbum aus weichem Material, ähnlich den Mappen, die Scott in der Schulzeit dazu benutzt hatte, Unterlagen für bestimmte Klassenprojekte, etwa Zeitungsausschnitte oder Fotos, zu sammeln und dort einzukleben. Als er das Bündel auswickelte, zerbröselte der Stoff unter seinen Händen. Es blieben nur Fetzen zurück, die nach Schimmel und Moder stanken.
Er verlagerte seine Position so, dass er den Rücken dem Fenster zuwandte, und setzte sich auf den Rand der Grube. Dabei fiel sein Blick auf ein schwach glänzendes Stück Metall in den Tiefen des hohlen Brustkorbs. Als er sich näher darüber beugte, entdeckte er ein Fleischermesser aus rost freiem Stahl, das sich bis in die Wirbelsäule des Leichnams gegraben hatte. Auf der Schneide war etwas aufgespießt, was wie eine Dörrpflaume aussah, ein Gewebeknoten, der früher einmal ein menschliches Herz gewesen war.
Während das Album aufgeschlagen auf seinen Knien lag blickte Scott mit zusammengekniffenen Augen auf das Foto das auf der ersten Seite klebte. Es war ein verblichenes Polaroidfoto, aufgenommen im Garten; im Hintergrund waren die Schaukel und die Trauerweide zu erkennen. Ein blasses Mädchen mit silbernem Haar stand neben einem großen, grinsenden Mann, dem es bis zur Hüfte reichte. Der Mann war sicher schon über siebzig und hatte äußerst eindrucksvolle dunkle Augen - Augen, die eher wie Knöpfe aussahen ...
Die Worte, die irgendjemand mit blauer Tinte darunter geschrieben hatte, waren kaum noch lesbar - so als hätten Zeit und Fäulnis ihr Vernichtungswerk gerade noch so lange aufgeschoben, bis irgendjemand dieses von einem Leichnam bewachte Bündel fand. Die sorgfaltig gemalte Bildunterschrift lautete: OPA UND MARISSA ROWE. MISSYS 10. GEBURTSTAG, 11. JULI 1972. Der Zeichner ... der Alte war der Großvater des Kindes. Scott, der sich so fühlte, als häute ihn jemand bei lebendigem Leib, schlug die Seite um und versuchte, den verblassten Brief, der dort eingeklebt war, zu entziffern. Er trug das Datum des 3. Januars 1970. Die Schrift war unregelmäßig und verschmiert, offenbar hatte die Hand beim Schreiben gezittert. Außerdem war der Brief voller Rechtschreibfehler; die meisten Worte waren so buchstabiert, wie sie ausgesprochen wurden. Der Wortlaut, den Scott rekonstruierte, war folgender:
Lieber Daddy,
mir geht 's jetzt viel besser. Die Arzte im Sanatorium sagen,ich kann jetzt wieder ein normales Leben fuhren. Hab seit zwei fahren nicht mehr getrunken und noch länger keine Drogen genommen. Ich will meine Marissa zurück. Ich weiß, dass du der Vater bist, und das hab ich auch den Ärzten im Sanatorium gesagt, aber sie braucht ihre Mama jetzt. Also leg mir bitte nix in den Weg. Wie die Arzte sagen, hob ich immer noch das Sorgerecht. Es sind neun lange Jahre gewesen. Ich will nicht, dass du ihr so was antust wie mir. In einer Woche bin ich da. Bitte bereite meine kleine Tochter darauf vor. Sag ihr, wir werden in Boston leben, in einer hübschen Wohnung nah am Wasser.