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Deine Tochter Marietta

Nicht der Großvater ... der Vater!

Scott blätterte um. Auf der nächsten Seite klebte die Buntstiftzeichnung eines Kindes: Ein primitiv gezeichnetes, mit Strichen angedeutetes Kind kauerte hinter dem Bein eines großen Strich-Männchens, das ein Messer in der Hand hielt. Vor ihnen stand eine hässliche Hexe mit langer, von Warzen übersäter Nase, die eine Flasche in der Hand hielt. Darunter stand in kindlicher Schrift, bei der sich einige Buchstaben nach hinten neigten: BITTE LASS NICHT ZU DASS SIE MICH HOLT

Auf der nächsten Seite klebte ein alter Zeitungsausschnitt vom 30. Januar 1970.

Von ihrem Vater als vermisst gemeldet: Marietta Rowe, 36, Mutter einer Tochter, Marissa Rowe. Miss Rowe wurde vor kurzem aus einer Bostoner Rehabilitationsklinik entlassen und befand sich auf dem Heimweg zu ihrem Kind, für das sie jetzt ihr Sorgerecht geltend machen wollte. Seitdem ist nichts über ihren Verbleib bekannt. Bislang hat Nicholas Rowe, Marietta Rowes Vater, für Marissa gesorgt. Bereits kurz nach Marissas Geburt erhielt er das Sorgerecht für seine Enkelin. Es fehlen jegliche Hinweise und Spuren, die ...

Der Zeitungsausschnitt enthielt auch ein Foto, das ebenfalls stark verblichen war. Ein flaches Gesicht, gezeichnet von Krankheit und Alkohol, blickte Scott wie ein Gespenst an Marissas Mutter. Ein düsteres, grobes, vom Leben betrogenes Gesicht. Am Hals hing ein auffälliges Medaillon, ein Friedenssymbol, eingefasst in ein silbernes Oval.

Scott zündete ein Streichholz an und leuchtete damit in die Grube. Das zarte, gelbe Flämmchen schwankte hin und her und ließ nicht auszulotende Schatten hervortreten.

An der Kehle des Skeletts baumelten die Kette und das inzwischen verrostete Medaillon.

Der Alte hatte seine eigene Tochter umgebracht, weil er Marissa nicht mehr hatte hergeben wollen. Welch seltsame, schreckliche Liebe ... Scott, der fast zu atmen vergaß, blätterte um. Und stieß auf Zeichnungen.

Erneut überwältigte ihn das Gefühl völliger Irrealität. Die Zeichnungen zeigten den Unfall, der vor so langer Zeit passiert war ... Aber aus Sicht des Kindes.

Im ersten Cartoon streckte sich eine weiße Kinderhand nach dem Kätzchen aus, das sich ihr spielerisch entzog. Der Schwanz der Katze war steil aufgerichtet, die winzigen Beine wirbelten blitzschnell und mit großen Sprüngen davon. In der nächsten Sequenz teilte sich das hohe Gras. Die Verfolgungsjagd ging weiter: Das Kätzchen war immer leicht voraus, duckte sich, vollführte Täuschungsmanöver und schoss davon. Dann war die Straße zu sehen, die grellen Scheinwerfer. Dieser stille, endlose Moment. Metall, das sich auftürmte, glitzerndes Chrom, eine Wand aus Glas, dahinter ein dämonisches Gesicht, das Scotts eigenes war ...

Und ein weißhaariges Kind, um dessen Kopf sich ein Heiligenschein aus Blut gelegt hatte.

Wie kann er das wissen? Wie stellt er es an, mir so etwas anzutun?

Scott merkte, wie nach und nach der Wahnsinn von ihm Besitz ergriff, ohne dass er sich dagegen wehrte. Er blätterte weiter...

... und stieß auf weitere Zeichnungen.

Ein brennendes Haus. Eine stattliche Villa. Groß und stolz, genau wie sein Vater gewesen war. Züngelnde Flammen, die auf und ab tanzten. Eine weitere Zeichnung aus größerem Abstand, die zeigte, wie sich die Einfahrt in geschwungener Linie von den mit Säulen eingefassten Toren bis zum Haus erstreckte. Deutlich war die in Messing gearbeitete und auf Hochglanz polierte Hausnummer 47 zu erkennen.

Es war das Haus, in dem Scott aufgewachsen war.

Das Haus, in dem seine Eltern verbrannt waren.

So heftig zitternd, dass er kaum noch Luft bekam, wandte sich Scott der letzten vermoderten Seite zu. Dort fand er eine Nachricht in sauberer gotischer Schrift, die schlicht und einfach besagte: Auge um Auge.

Trotz seiner Verwirrung und Benommenheit sah Scott jetzt rot, sein Entsetzen vermischte sich mit ungezügelter Wut.

Blutstropfen benetzten die aufgeschlagene Seite und bildeten dort kleine Kreise aus rötlichen Perlen. Als Scott eine Hand ans Kinn hob, stellte er fest, dass die kleine, erbsengroße Narbe wieder aufgeplatzt war und zu bluten angefangen hatte.

In diesem Moment schien sich der Deckel des Albums zu bewegen und sich in der Hand zu winden, die es festhielt. Aus dem Einband löste sich ein Knäuel aus Schnecken und schwarz glänzenden Käfern und glitschte über Scotts nackten Unterarm, so dass er zu Tode erschrocken aufschrie, das Buch zu Boden schleuderte und wie besinnungslos auf seinen Arm einschlug. Mühsam rappelte er sich hoch, stolperte im Dunkeln aber über eine Flasche und schlug lang hin, wobei sich irgendetwas Scharfes in seinen Oberschenkel grub. Ohne auf den Schmerz zu achten, stand er wieder auf und ging hastig, aber vorsichtig weiter.

Er musste hier raus. Musste zurück zu Kath.

Von jetzt an würde sie stets in Gefahr sein, sobald man sie allein ließ.

31

Als er ins Foyer stürmte und den verschlüsselten Notruf höchster Dringlichkeitsstufe für die Intensivstation hörte beherrschte ihn nur ein einziger Gedanke: Ich muss zu Kath Ich muss zu meiner kleinen Tochter. Mehr als jeder Willensakt war es dieser Gedanke, der ihn vorwärts trug. Er konnte sich überhaupt nicht mehr an die Rückfahrt vom Friedhof zum Krankenhaus erinnern, würde es auch niemals tun. Er war zu einem Geschöpf geworden, das nur noch aus Reflexen heraus handelte und wie automatisch gesteuert funktionierte, wobei er sich unbewusst auf die früher erworbenen Fähigkeiten wie Laufen, Rennen oder Autofahren verließ. Die Stimme, die den Code über das interne Kommunikationsnetz durchgab, brachte ihn dazu, seinen Schritt zu einem gefährlich schnellen Lauf zu beschleunigen. Weit aufgerissene Augen und ungläubige Blicke verfolgten ihn, als er durchs Foyer und den Gang hinunter zur Intensivstation raste.

Nicht Kath, bitte lass es nicht Kath sein ...

Die schweren Türen der Station gaben Scotts ausgestrecktem Arm nach. Der Krach beim Zuschlagen ging in dem zielgerichteten Kommen und Gehen, das sich auf Kaths Nische konzentrierte, fast unter. Eine Krankenschwester, deren blaue Augen gequält blickten, eilte mit einem Wägelchen, auf dem Mittel und Instrumente für den Notfall lagen, den Gang entlang. Ein bärtiger Techniker, der ein Beatmungsgerät hinter sich herzog, kam durch eine schmale Hintertür gestürmt. Von ihrem Stuhl vor dem Computer schoss eine junge Ärztin hoch und hastete unmittelbar vor der Schwester mit dem Wägelchen in Kaths Zimmer.

Und sie alle waren vollauf beschäftigt, jeder Einzelne von ihnen.

Scott raste so schnell durch den Gang, dass er die Krankenschwester, die ihr Wägelchen gerade ins Zimmer schieben wollte, anrempelte und am Ellbogen erwischte. Anstatt sich bei ihr zu entschuldigen, drängte er sich so stürmisch an ihr vorbei, dass er den Karren fast umgeworfen hätte, riss den Vorhang zur Seite ... und blieb, schrecklich verwirrt, wie angewurzelt stehen.

Denn es war nicht Kath, die im Bett lag, sondern eine alte Frau. In jeder sichtbaren Körperöffnung hatte sie Kanülen stecken. Am Bettrand kniete eine Schwester und versuchte, sie durch Herzmassage wiederzubeleben. Dabei zählte sie beim Drücken den Rhythmus so laut mit, dass ihre Worte, die wie irgendeine unheimliche Beschwörungslitanei klangen, den Lärm der Apparate und Summen übertönten: »Eins eintausend, zwei eintausend, drei eintausend ...«

Als die Assistenzärztin Scott am Ellbogen berührte, wirbelte er zu ihr herum. »Ihre Tochter ist von der Intensivstation verlegt worden, auf die Station mit Fernüberwachung«, erklärte sie mit hoher, durchdringender Stimme. »Wir haben ihr Bett gebraucht. Zu der Station geht's dort hinten.« Sie deutete auf die Wand am Ende der Intensivstation. »Bitte, Dr. Bowman, wir brauchen hier jeden Platz.«