»Ist sie ...?«
Die Assistenzärztin warf einen kurzen Blick auf die Schwester, die sich um die Wiederbelebung bemühte, und nickte dann. »Ihrer Tochter geht's gut. Wenn Sie jetzt bitte ...«
Trotz des ringsum herrschenden Chaos konnte sich Scott ein Lächeln nicht verkneifen. Während er aus dem Zimmer eilte, strahlte er vor Erleichterung wie ein Honigkuchenpferd.
Terry Deans, die leitende Schwester der Station, auf der Kath jetzt untergebracht war, sah von ihren Krankenblättern auf und lächelte. Aber ihr Lächeln verflog, sobald sie Scotts Blick begegnete. Wer dieser Kerl auch sein mochte, sie wollte ihn hier nicht haben - so viel war ihr sofort klar. Und falls er keinen plausiblen Grund für seine Anwesenheit nennen konnte, würde sie ihn auf der Stelle mit sanfter Gewalt hinausbugsieren. Denn er war unrasiert und blutverschmiert, seine Kleidung sah katastrophal aus und die Augen hatten irgendetwas ... Wahnsinniges. Sie stand auf. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«
»Ich suche nach meiner Tochter.« Scotts blutunterlaufene Augen blickten nervös von Zimmer zu Zimmer.
»Wie heißt sie denn?« Terry konnte kaum glauben, dass ein Mann, der so heruntergekommen aussah, eine Tochter haben sollte. Sie fragte sich, ob er womöglich der Vater des missbrauchten Kindes in 2 C sei.
»Kath ... Kathleen Bowman. Sie ist zehn. Bis heute früh hat sie auf der Intensivstation gelegen.«
Terry spürte, wie sich der Druck auf ihrer Brust lockerte. Das war der arme Kerl, dessen Frau neulich Nacht bei dem Autounfall ums Leben gekommen war. Dennoch erklärte das nicht, warum er so aussah, als hätte er sich draußen im Regen herumgeprügelt. »Sie ist in 2 F, Mr. Bowman, die dritte Tür rechts.« »Ist irgendjemand bei ihr? Ihre Tante ...?« Terry schüttelte den Kopf. »Ihre Tante ist vor wenigen Minuten gegangen. Hat gesagt, sie wolle sich ein paar Zeitschriften besorgen.«
Scott machte sich eilig auf den Weg. Er wollte Kath keine weitere Minute allein lassen. Er hatte schon daran gedacht, die Polizei anzurufen ... Aber was sollte er denen erzählen? Dass irgendjemand versuchte, eine alte Rechnung zu begleichen? Die Rechnung dafür, dass vor sechzehn Jahren ein kleines Mädchen von einem Auto erwischt worden und tot auf der Straße liegen geblieben war, während sich der Fahrer aus dem Staub gemacht hatte? Gott, dieser höllische Lärm in seinem Kopf. Seit seiner Rückkehr zum Krankenhaus hatte sich das Geräusch leicht verändert. Jetzt klang es so, als huschten Ratten hinter Wandverputz herum, oder ...
(oder was?)
Kath lag fest schlafend auf dem Rücken und Jinnie neben ihr auf dem Kopfkissen. Die Puppe, deren Augen stets offen standen, grinste Scott mit gutmütiger Idiotie an.
Er trat ins Zimmer - es war sogar noch kleiner als das auf der Intensivstation, allerdings nicht durch all diese sperrigen Apparate verstopft - und nahm am Fußende des Bettes Platz. Seufzend legte er eine Hand auf Kaths Knöchel, der sich warm und lebendig anfühlte.
Ohne aufzuschrecken öffnete Kath die Augen und sah ihn an.
Doch sie sah gar nicht wirklich ihn an, wie Scott merkte. Eigentlich war ihr Blick auf überhaupt nichts Bestimmtes gerichtet. Ihre Augen standen zwar offen und blickten in Scotts Richtung, aber sie erfassten seine Anwesenheit genauso wenig wie die ihrer Puppe.
Als Scott besorgt Kaths Namen flüsterte, tauchte ein Leuchten in ihren Augen auf, das er darin noch nie zuvor gesehen hatte, ein Glanz, der eher ein Glühen als ein bewusstes Erkennen war. Einen Moment lang schien es so, als verstärke sich das Leuchten. Es wirkte so unnatürlich grell, dass Scott an die bösen Kinder in dem Film Dorf der Verdammten denken musste - und an Jake Lakings Augen in jener längst vergangenen Nacht.
Gleich darauf verschwand es. Jetzt wirkten Kaths Augen so schwarz und leer wie die eines Haifisches.
Scott hielt den Atem an und lauschte.
Dieser Lärm! Was war das nur für ein gottverdammter Lärm? Er drang nicht durch seinen Kopf, sondern kam direkt aus diesem Zimmer, von überall her ...
kratz, kratz, kratz ... kratz ...
Kath setzte sich im Bett auf, schnellte geradezu hoch, wie eine von einer Schrotkugel getroffene Schießbudenfigur. Mit den Händen griff sie sich ungestüm an den Hals, während aus ihrer Kehle seltsame Gurgellaute drangen, als versuche sie, etwas, das sie verschluckt hatte, wieder loszuwerden. Ihr Gesicht, das die sommerliche Bräune fast verloren hatte, verdüsterte sich und wurde so dunkelgrau wie eine Sturmwolke. Ihre weit aufgerissenen Augen blieben weiterhin dunkel -und plötzlich begriff Scott auch, warum. Ihre Pupillen waren geweitet, so stark geweitet, dass das Blau ihrer Iris davon völlig verschluckt wurde.
Ein Gehirnschaden, dachte er mit plötzlicher, eiskalter Panik Sie hat hier, auf dieser verdammten fernüberwachten Station, ganz allein gelegen und solche Krämpfe bekommen, dass ihr Hirn jetzt nachhaltig geschädigt ist...
Scott riss den Mund auf, wollte losbrüllen.
»Daddy ...«, krächzte Kath in diesem Moment, und das traf ihn so unvermittelt, dass ihm der Schrei in der Kehle stecken blieb. »Mach, dass es aufhört...« Sie griff sich an den Hals. Aus ihrem Mund, der zu einem Schlitz verzerrt war, flog Speichel. »Er ... versucht mich umzubringen ... Daddyyyyyy...«
kratz, kratz, kratz, kratz ...
Gelähmt vor Angst, beobachtete Scott seine Tochter, während der Lärm in seinem Kopf ihn auseinander zu reißen drohte. Er musste zusehen, wie seine Kleine erstickte, ohne einen Finger rühren zu können.
»Oh, mein Gott...« Mit wächsernem Gesicht stand Caroline in der Tür. Ein Arm voll Magazine klatschte auf den Fußboden. »Hilfe!«, schrie sie so laut sie konnte. »Um Himmels willen, es muss ihr doch jemand helfen!«
Kaths Hände lösten sich vom Hals und streckten sich nach ihrem Vater aus, während sich ihre Augen grässlich verdrehten. »Daddy... mach dass esssss ...« Scott schlug die Hände vor die Ohren.
kratzkratzkratzkratzkratzkra...
»Nein!«, brüllte er und kniff heftig die Augen zu. »NEIN!«
Und in diesem Moment hörte es auf. Alles hörte auf. Das, was Kath würgte, Scotts Schockreaktion, die ihn lähmte, der Lärm in seinem Kopf... Ein Lärm, der so sehr nach ...
Kath schlang ihrem Vater die Arme um den Hals und klammerte sich wie ein ertrinkendes Kind an ihm fest. Er hörte sie neben seinem Ohr mit kurzen, unbeständigen Zügen atmen. Und das erinnerte ihn an sein eigenes entsetzliches Erlebnis, als er unter dem Anlegesteg fast erstickt wäre.
Dumpfe Schritte kündigten Terry Deans an, die leitende Stationsschwester. »Was geht hier vor? Was ist los?«
»Mach, dass es aufhört, Daddy«, flehte Kath atemlos. »Mach, dass er weggeht...« »Wer, Kleines?«, fragte Scott. »»Wer soll weggehen?« Als Terry Deans Kaths mühsames Atmen und die bösen roten Flecken an ihrem Hals bemerkte, trat sie mit vor Sorge verzerrter Miene näher. »Lassen Sie mich sehen«, sagte sie und fuhr gleich darauf so zurück, als sei sie von etwas gestochen worden. Denn Scott hatte ihr Kath mit einem Ruck entrissen. Inzwischen hatte er jede Beherrschung verloren. »Nein«, schrie er, »halten Sie sich da raus!«
Im Türrahmen tauchte ein schlaksiger Krankenpfleger auf.
»Ken, holen Sie Hilfe«, wies Terry ihn an. »Und machen Sie schnell!«
Der Pfleger eilte davon.
»Such Kaths Kleidung zusammen, Caroline«, sagte Scott, der seine Tochter immer noch an die Brust drückte. »Wir hauen von hier ab.«
»Nein«, keuchte Kath. »Er will... Daddy!«
Scott sträubten sich die Nackenhaare. Er schob Kath von sich weg, um ihr ins Gesicht zu starren, das schon wieder purpurrot anlief. Und ihre Augen ...