Kratzkrackratz...
Ein großer, schwarzer Arzt kam so ins Zimmer gestürmt, dass das Stethoskop an seinem Hals wie ein neckischer Schal auf und ab tanzte. Als er Kaths Zustand erfasste, eilte er, Anweisungen brüllend, zu ihr. »Besorgen Sie einen Wagen mit Notausrüstung und ein Beatmungsgerät und holen Sie Hilfe von der Intensivstation. Ich will eine Infusion mit...«
»Ist er das, Kleines?«, fragte Scott »Meinst du diesen Mann?«
»Bitte, Sir!«, unterbrach ihn der Arzt. »Machen Sie Platz. Wenn das Ihr Kind ist, befindet es sich in großer Gefahr. Ich muss sofort eingreifen.«
»Haun Sie ab!«, schrie Scott.
Und dann warf sich ein Pfleger über ihn und zog ihn weg, während Kath keuchte, sich unbeholfen an die Kehle fasste und Scott mit diesen seelenlosen, schwarzen Augen anglotzte Nach und nach strömten Menschen ins Zimmer: die Assistenzärztin von der Intensivstation, die Krankenschwester mit den runden Augen, die wieder das klappernde Wägelchen vor sich herschob, der bärtige Techniker mit dem Beatmungsgerät. Eine weitere Schwester, die sich bemühte, Kaths Arme festzuhalten, während der Arzt ihr Sauerstoff verabreichte. Kath warf sich wild hin und her, ihr Hals war wie der einer Kröte aufgebläht. Jeder Versuch, Luft zu holen, mündete in einem schwachen, krächzenden Röcheln.
»Lassen Sie die Hände von ihr!«, bellte Scott und schleuderte den Pfleger weg, als sei er nicht schwerer als ein Kopfkissen. »Lassen Sie meine Tochter in Ruhe! Nicht sie ist für ihren Zustand verantwortlich, haben Sie denn keine Augen im Kopf?«
So fest wie Handschellen schlossen sich Finger um seine Gelenke. Ein kräftiger Unterarm nahm ihn in den Schwitzkasten. Als Scott sich mit dem Ellbogen wehrte, merkte er, wie er irgendjemanden am Kinn traf.
»Schaffen Sie ihn hier raus!«, befahl der Arzt und fügte, an die Schwester mit dem Wagen gewandt, hinzu: »Bereiten Sie eine 6 E-Infusion vor. Ich werde sie intubieren müssen.«
Scotts Blickfeld trübte sich, der ganze Raum schwankte und begann sich um ihn zu drehen. Überall auf seinem Körper waren Hände und Arme, die ihn gewaltsam aus dem Zimmer zerrten.
Dieser verdammte Lärm!
Erneut stand Scott, voll gepumpt mit Adrenalin, im Türrahmen jenes Krankenzimmers, das in einer anderen Klinik lag. Und benötigte jedes Quäntchen Selbstbeherrschung, das er aufbringen konnte, um vor dem harmlosen Greis im Rollstuhl nicht davonzulaufen.
Vor einem harmlosen Alten und seinem unablässig kratzenden Bleistift.
In diesem Moment der Erinnerung merkte er - oder ein uralter, dunkler Teil seiner Seele -, was es mit dem Lärm in seinem Kopf auf sich hatte.
Kaths wilder Kampf war beendet. Jetzt lag sie völlig still da, während der Arzt versuchte, ein Röhrchen in ihre Kehle einzuführen. Am Fußende des Bettes stand eine Schwester, die ein steriles Operationsbesteck auspackte. Scharfe Instrumente aus rostfreiem Stahl funkelten im kalten Licht der Neonröhren. Alle Augen im Zimmer waren von Hoffnungslosigkeit und Resignation getrübt, alle Vorhänge zugezogen. Und der Lärm in Scotts Kopf ließ endlich nach. Mit einer einzigen entschiedenen Bewegung befreite er sich aus der Umklammerung - und verließ mit einem Dutzend schneller Schritte die Station, durchquerte den Hauptgang und stürmte ins Angehörigenzimmer. Am Bett blieb er stehen und schnappte sich das Telefon, während er mit scharfen, flachen Zügen Luft holte.
Ihm fiel die Instruktion ein, die ihm die Krankenschwester am Vortag gegeben hatte. »Ich bin am Anschluss zwei-fünf-null«, teilte er der Telefonzentrale mit. »Geben Sie mir eine Leitung nach draußen.«
Die folgende Pause nutzte Scott dazu, ein winziges Telefonverzeichnis aus der Brieftasche zu ziehen. Er blätterte zum Buchstaben L und fand das, was er suchte, auf der Mitte der Seite. Es war eine Nummer, die er schon Vor Jahren notiert, aber noch nie angewählt hatte.
Nach mehrmaligem Klicken der Schaltungen war das Freizeichen zu hören. Er drückte elf in unterschiedlicher Tonhöhe summende Tasten. Nach dreimaligem Läuten meldete sich eine weibliche Stimme, die angespannt und wie unter Drogen klang: »Jaaa?«
»Scott Bowman am Apparat. Ich bin ein alter Freund von Jake und muss dringend mit ihm sprechen. Ist er ...«
Bitteres Kichern unterbrach ihn mitten im Sau. »Soll das ein Witz sein?« »Wie bitte?«
»Ich bin Jakes Schwester. Jake hat sich umgebracht, Mr.
Bowman. Sich selbst, seine Frau und seine beiden süßen Babys. Wir haben sie alle vor vier Tagen beerdigt.«
Oh, Gott, »Wie hat er Aber wahrend er noch sprach wurde aufgelegt. Benommen gab er eine andere Telefonnummer ein, diesmal musste er nicht nachschlagen. Er verwählte sich dabei, so dass er die Eingabe wiederholen musste. »Health Sciences Center Ost-Ontario.« »Geben Sie mir die Station Two Link. Dr. Bowman am Apparat. Bitte beeilen Sie sich.« Mehrfaches Klicken, danach der Wählton. »Hier Two Link, Mavis MacDonald, Stationsschwester.« »Mavis?« Scott spürte so etwas wie Erleichterung, denn er kannte diese barsche alte Oberschwester, die ein Universitätsstudium absolviert hatte, und mochte sie. »Ich bin darauf angewiesen, dass Sie mir einen Gefallen tun ...« »Dr. Bowman? Sind Sie das?«
»Ja. - Hören Sie zu, Mavis, das hier ist furchtbar wichtig.« Beim Sprechen merkte er, wie ein Rest von Selbstbeherrschung zurückkehrte. Diese ganzen Vorgänge mochten zwar völlig unfassbar sein, aber zumindest konnte er den Wahnsinn jetzt an einem ganz bestimmten Punkt festmachen und dieses schreckliche Durchdrehen, das kein Ziel kannte, überwinden. »Ich möchte, dass Sie so schnell wie möglich zum Zimmer des Alten, des Zeichners, gehen, sich sein Klemmbrett schnappen und damit zurück ans Telefon kommen.« Ihm fiel ein, wie er versucht hatte, dem Zeichner den Bleistift aus der arthritischen Klaue zu winden. »Falls er sich dagegen wehrt, holen Sie Hilfe. Und machen Sie schnell!«
Am anderen Ende der Leitung folgte ein Schweigen, das Unsicherheit verriet. Gleich darauf sagte Mavis so, als gebe sie den wahnwitzigen Vorstellungen eines mit Kummer geschlagenen Mannes nach: »Das mit Ihrer Familie tut mir sehr Leid, Dr. Bowman. Uns allen hier ...«
»Erledigen Sie es sofort, Mavis. Bitte!«
Während Scott wartete, drang das ferne Rauschen so zischend wie ein ganzes Meer von Störgeräuschen an sein Ohr - ein Lärm, der irgendwie noch nervtötender war als das inzwischen verstummte Kratzen.
Caroline tauchte neben ihm auf und packte ihn am Arm. »Was geht hier vor, Scott? Wen rufst du an?«
Er hob den Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Als Mavis wieder an den Apparat kam, zuckte er zusammen. »Haben Sie's bekommen?«, platzte er heraus, ehe sie sich melden konnte.
»Ja, war überhaupt kein Problem. Der schläft wie ein Baby.«
»Sagen Sie mir, was Sie sehen. Was hat er gezeichnet?«
»Nichts. Da ist nur ein leeres Blatt...«
»Sehen Sie darunter nach.«
Er hörte Papier rascheln. »Verrückt«, sagte Mavis ins Telefon. »Sieht makaber aus, so als ob irgendeine bizarre Comic-Figur das letzte bisschen Leben aus einem Kind herauspresst, es erwürgt... Ein Mädchen, glaube ich, das im Bett liegt«
»Du lieber Gott«, murmelte Scott Ihm brach der kalte Schweiß aus, sein Körper sackte in sich zusammen. »Wie kann das sein ... Wie ist das nur möglich?«
Aber er hatte es gewusst Tief in seinem Inneren hatte er es seit seinem Besuch in dem verlassenen Haus gewusst - seitdem er das vergilbte, alte Polaroid-Foto gesehen hatte. Und jene abscheulichen Augen, die wie Einschusslöcher gewirkt hatten.
»Doktor Bowman? Sind Sie noch dran?«
Scott presste den Hörer ans Ohr. »Mavis, bitte nehmen Sie eine Verordnung von Medikamenten entgegen. Ich werde das abzeichnen, sobald ich heute Abend zurück bin. Ich möchte, dass Sie ihm alle drei Stunden, ohne jede Unterbrechung, fünfundsiebzig Milligramm von Chlorpromazin IM verabreichen. Außerdem ...«