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»Fünfundsiebzig Milligramm«, wiederholte Mavis. »Ich will Ihnen ja nicht ins Handwerk pfuschen, Doktor, aber fünfundsiebzig Milligramm werden den alten Kerl glatt umhauen. Er schläft doch sowieso schon, um Himmels willen, warum...«

»Tun Sie's einfach, Mavis. Sie wollen diese Anweisung doch bestimmt nicht übergehen. Das ist mein voller Ernst. Ich möchte, dass er völlig außer Gefecht gesetzt wird, das Bewusstsein verliert. Er ist gefährlich, Mavis, er ist...« Scott führte den Satz nicht zu Ende, er hatte sowieso schon zu viel gesagt »Bitte tun Sie einfach, was ich Ihnen aufgetragen habe. Es ist wichtig. Wichtiger, als Sie ahnen.«

»Also gut«, erwiderte Mavis, der bereits klar war, was sie tun würde. »Und Sie unterschreiben die Verordnung noch heute Abend?«

»Darauf können Sie sich verlassen. Erledigen Sie's sofort, Mavis, bitte!« Er legte auf.

»Bleib hier!«, befahl er Caroline, ohne auf ihre Fragen einzugehen. Gleich darauf eilte er zurück zur Station.

Als Scott hastig eintrat, erhob sich der Arzt, der Kath gerade behandelt hatte, von seinem Platz hinter dem Schreibtisch. Er blickte so finster, dass Scott seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah.

»Sie hatte irgendwelche Probleme mit der Atmung«, erklärte der Arzt und sah Scott aus seinen kaffeebraunen Augen resigniert, aber ohne auszuweichen, an. »Ähnliches hab ich noch nie gesehen. Es war ja kein Fremder im Zimmer, aber als ich sie zu intubieren versuchte, war es so, als ob jemand von außen auf das Zellgewebe drücke. Ich konnte das Röhrchen einfach nicht hineinbekommen und musste einen Luftröhrenschnitt durchfuhren.«

»Heißt das, dass sie noch am Leben ist?« Scotts Grinsen grenzte gefährlich nahe an Wahnsinn.

Zum ersten Mal wandte der ältere Arzt den Blick ab. »Ja, sie lebt, Dr. Bowman ...« Offenbar fehlten ihm im Augenblick die Worte. »Allerdings hat ihr Hirn sehr wahrscheinlich einen Schaden erlitten, wie ich furchte. In diesem frühen Stadium kann man unmöglich sagen, wie groß dieser Schaden ...«

Immer noch grinsend, schob sich Scott so rücksichtslos an dem Arzt vorbei, als sei er irgendein Gegenstand, der ihm im Weg war, und eilte zu Zimmer 2 F.

Doch als er eintrat, erstarb das Fünkchen Selbstbeherrschung, das während des Telefonats wieder aufgeflackert war, und hinterließ solche Dunkelheit in ihm, als sei ein Stern erloschen. Wie oft hatte er als Assistenzarzt eine ähnliche Szene erlebt? Hundert Mal? Zweihundert Mal? Er sah einen Techniker, der für die Beatmung sorgte und mit den Reglern der künstlichen Lunge so herumhantierte, als hänge ein kleiner Junge mit Leib und Seele an seinem Videospiel; eine Krankenschwester, die mit grimmiger Miene die blutbefleckten beim Luftröhrenschnitt verwendeten Instrumente einsammelte — so über ihr Operationsbesteck gebeugt, als erwarte eine erschöpfte Kellnerin das Ende ihrer Doppelschicht. Und da lag auch die Patientin: still und starr in einem blütenweißen Bett, während ein unbarmherziges Gummigebläse Zug um Zug Sauerstoff in ihre Lunge pumpte.

Nur, dass diesmal seine eigene kleine Tochter die Patientin war.

Diesmal war es Kath.

Die künstliche Lunge war mit einem Plastikteil an ihrer Kehle verbunden. Aus dem Einschnitt sickerte ein Tropfen Blut, durch die ausgetretene Gewebeflüssigkeit zu blassem Rosa verdünnt. Wie eine blutige Träne rann der Tropfen an ihrem Hals herunter.

Scott wurde schwindelig, fast wäre er in Ohnmacht gefallen. Als er sich vorstellte, wie alle lebensrettenden Apparate verschwanden, blieb nur ein einziges Bild zurück. Das Bild, wie Kath in einem Sarg aus Mahagoni lag, dessen Deckel offen stand. Der penetrant süßliche Geruch von Blumen war so unerträglich, dass ihm übel wurde; er spürte, wie sich ihm langsam, aber sicher der Magen umdrehte ...

Als er die Augen schloss, verschwand das Bild. Und als er sie wieder öffnete, war er mit seiner Tochter allein im Zimmer.

Er bemerkte, dass Jinnie unter dem Bett auf dem Fußboden lag. In der Hektik der lebensrettenden Maßnahmen, die Arzt und Schwestern erst vor wenigen Minuten in diesem Raum durchgeführt hatten, war die Puppe aus dem Bett gefallen. Es war nur ihr aufgedunsenes Gesicht zu sehen; die niemals zwinkernden Augen schienen ihn anzuklagen. Er hob sie auf und setzte sie wieder auf Kaths Kopfkissen.

Kaths Augen waren geschlossen.

Sie schläft, dachte er und tröstete sich mit dieser Selbsttäuschung.Sie macht nur ein Nickerchen. Er legte eine Hand an ihre Stirn.

Gleich darauf hob er zum Test ihrer Reflexe - das hatte er wahrend des Medizinstudiums gelernt - ihre Lider an und untersuchte die Augäpfel.

Nichts. Schwarze. Dunkle Teiche stillstehenden kalten Wassers.

Am liebsten hätte Scott sich sofort bemüht, sie aufzuwecken, sie zu erreichen, sie aus den trüben Teichen dieser Augen, in denen ihr Selbst unterging, herauszuholen. Es war der Arzt in ihm, der diesen schrecklichen Versuch vereitelte.

Scott zog sich zurück.

Und dann kam ihm eine Idee, die so völlig unglaublich und dennoch unwiderstehlich war, dass er schon beim Gedanken an diese Möglichkeit zu zittern begann. Er hatte zwar keine rationale Vorstellung davon, mit wem oder was er es hier zu tun hatte - aber schließlich war ja auch nichts von allem, was geschehen war, rational, oder? War er dem Teufel persönlich, verkörpert durch diesen ekelhaften Alten, von Angesicht zu Angesicht begegnet? Oder war es irgendein verbitterter Racheengel Gottes? Wenn ihm vor vier Tagen (war es wirklich erst vier Tage her?) jemand erzählt hätte, er werde innerhalb weniger Stunden ohne Wenn und Aber an übersinnliche Erscheinungen glauben, hätte er herzlich darüber gelacht. Hätte dieselbe Person behauptet, er werde keine Woche später ernsthaft über einen Pakt mit dem Teufel nachsinnen, hätte er ihr eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie verpasst.

Aber wenn der Alte diese Dinge nur dadurch, dass er sie zeichnete, geschehen lassen konnte — und tat er nicht genau das? —, dann konnte er sie vielleicht auch wieder aus der Welt schaffen. Womöglich würde man ihn dazu überreden können, Kath ihr normales Selbst zurückzugeben und ihre Seele zu retten, so dass sie wieder in diese leeren Augen zurückkehrte.

In diesem Augenblick schoss Scott die Möglichkeit durch den Kopf, dass er völlig durchgeknallt war, aber er verwarf sie schnell wieder, ging zu einem Telefon und rief den Flughafen an. Dort konnte man ihm einen Platz für einen Direktflug um drei Uhr nachmittags reservieren, also würde er um zehn nach vier in Ottawa eintreffen. Jetzt war es zwanzig nach zwei.

Er kehrte ins Zimmer zurück, griff nach seiner Flugtasche und warf einen letzten Blick auf Kath, ehe er davoneilte. Am Zimmereingang stieß er mit Caroline zusammen.

»Scott, wo gehst du hin?«

Er packte sie so heftig am Arm, dass er ihr wehtat. »Bleib bei ihr«, sagte er mit wahnsinniger Eindringlichkeit »Beschütze sie.«

»Scott

Als er sich an ihr vorbeidrängte, blieb seine Flugtasche an der Türklinke hängen und löste sich aus seinem Griff. Kleidung fiel heraus, eine Zahnbürste und der Umschlag mit den Weihnachtsbildern. Die Fotos rutschten heraus und verteilten sich fächerförmig wie das Blatt eines Kartenspielers auf dem Fußboden.

Scott hob die Tasche auf und stopfte die Kleidung wieder hinein, während sich Caroline verwirrt bückte, um die Fotos einzusammeln.

Als sie wieder hochsah, war Scott bereits verschwunden.

Am schwersten war es für Caroline, die Bilder von Krista anzusehen, aber sie ging sie wie unter einem Zwang durch, wobei ihr Mienenspiel ständig zwischen Schmerz und Freude wechselte. Unfassbar, dass ihre kleine Schwester tot sein sollte ...

Während Tränen ihren Blick trübten, stieß Caroline auf die Unterwasser-Aufnahme von der Anlegestelle. Verwundert betrachtete sie das Foto, wobei ihr plötzlich kalt wurde, und mischte es dann unter die anderen Bilder ganz unten im Stapel.