Auf dem nächsten Abzug war überhaupt nichts zu erkennen ... Oder doch?
Ungläubig sah Caroline zu, wie sich die nicht entwickelte Aufnahme kaum merklich zu verändern begann. Anfangs dachte sie, ihre Fantasie spiele ihr einen Streich, es sei nur eine Sinnestäuschung ihres überreizten Hirns.
Aber nein: Das Ding veränderte sich tatsächlich, entwickelte sich wie ein Polaroidfoto, nur langsamer. Nach und nach tauchte ein Gesicht oder der Teil eines Gesichtes auf... und zwei Hände, die nach oben griffen.
Mein Gott, dachte Caroline ebenso erschrocken wie verwundert, dieser Gesichtsausdruck...
Das Gesicht auf dem Foto, das sich jetzt herauskristallisierte, als lichte sich nach und nach eine düstere Rauchwolke, war grässlich verzerrt, wie zu einem Todesschrei. Und es schien in irgendeiner Masse festzustecken ... Unterhalb des Kinns, rund um die Ohren und rings um die Stirn war ... Treibsand?
Ja, es war das Gesicht eines Mannes, der in Treibsand versank.
Aber es war nicht irgendein Gesicht. Scott? Die Nerven in Carolines Fingern versagten, das Bild wirbelte auf den Boden. Auch auf dem nächsten Abzug, ebenfalls leer, lichtete sich der Nebel nach und nach und enthüllte hasserfüllte rote Augen, Zahnstümpfe und riesige Blutspritzer.
Caroline schrie auf. Diesmal entglitten ihr alle Fotos und verteilten sich wie die Bruchstücke eines geplatzten Traums auf dem Fußboden.
32
»Wo ist er?«
Janet Brown, die Empfangsdame der Station Two Link, trat unwillkürlich einen Schritt zurück und dankte bei sich dem lieben Herrgott dafür, dass ein Schreibtisch zwischen ihr und dem Mann gegenüber stand. Sie hatte gerade mit ihrem Freund telefoniert, als Scott hinter ihr aufgetaucht war und sich daran gemacht hatte, die Kartei mit den Krankenblättern zu durchwühlen.
»Wo ist wer?«, fragte Janet zurück. Noch nie hatte sie einen Arzt in einer derart katastrophalen Verfassung gesehen. Alkoholiker vielleicht oder auch Unfallopfer, aber niemals einen Arzt. Und mit seinen Augen stimmte was nicht. Sie waren rot umrändert, glänzten viel zu stark und wanderten dauernd hin und her, so als fürchte er, das Gebäude könne einstürzen oder irgendein wildes Tier heranstürmen, um ihn zu verschlingen. Gehetzt - das war das Wort, nach dem sie gesucht hatte. Der Mann wirkte gehetzt.
Scott pflanzte die Fäuste auf die Schreibtischplatte und beugte sich zu ihr hinüber. »Der Alte, der Zeichner. Wo ist er?«
Janet trat noch einen Schritt zurück und stolperte zu ihrem Stuhl hinüber. Ihr fiel ein, dass ihr Freund immer noch am Apparat war und wartete. Während sie rechts und links den Gang hinunterblickte, verfluchte sie die Tatsache, dass er jetzt wegen der abendlichen Essenszeit völlig menschenleer war. Sie wandte den Blick wieder Scott zu.
»Der ist verlegt worden«, brüllte sie fast. »Vor etwa einer Stunde, in die Psychiatrie. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Aber Scott hatte sich schon umgedreht und rannte auf die Treppe zu. Die Empfangsdame wartete, bis er durch die Tür gewitscht war, dann wählte sie die Null und ließ die Leiterin des Pflegedienstes, die gerade beim Abendessen war, über Lautsprecher ausrufen.
Bateman, dachte Scott, als er die Treppe hinunter zum Hauptgang eilte. Er hatte übersehen, welches Interesse der Chef der Psychiatrie an dem Alten nahm. Selbstverständlich hatte Mavis MacDonald Bateman angerufen, damit er Scotts völlig unangemessene Anweisung bestätigte. Und selbstverständlich hatte Bateman sein Veto eingelegt, Scott drängte sich durch den Hauptgang, schoss ins Schwesternzimmer, das momentan leer war, ging zu der Kartei auf dem Schreibtisch hinüber und machte sich ans Durchblättern, um nach der neuen Zimmernummer des Alten zu suchen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine argwöhnische Stimme in seinem Rücken.
Scott ignorierte sie und blätterte die Kartei weiter durch, wobei er das unkontrollierte Zittern seiner Hände verfluchte.
»Dr. Bowman?«, fragte die Stimme. »Sind Sie das?«
»In welchem Zimmer ist der Zeichner untergebracht?«, fragte Scott und wandte den irren Blick der Schwester zu.
Genau wie die Empfangsdame auf der Station Two Link fuhr die Frau zurück. Sie reagierte damit, dass sie eine Krankenakte aus der Kartei zog und ihm zuwarf. Scott schlug sie hastig auf und suchte nach der telefonischen Anweisung, die er Maris MacDonald gegeben hatte. Wie es die Vorschrift verlangte, hatte Mavis Scotts Arzneimittelverordnung eingetragen und unterschrieben. Aber im Feld darunter stand eine weitere Anweisung, die im Unterschied zu der oberen mit sauberer Füllerschrift eingetragen war, und sie besagte: Obige Anweisung ignorieren. Verlegen Sie den Patienten in die Psychiatrie, gezeichnet Dr. med. V. Bateman.
Der Zeichner befand sich in 117, einem Privatzimmer am Ende des Ganges.
Hastig durchquerte Scott den Gang, bis sich sein Magen vor Angst zusammenzog und er, wieder einmal überwältigt von diesem seltsamen Gefühl der Irrealität, dem Gefühl, im Leeren zu schweben, sein Tempo drosselte. Er holte tief Luft und kämpfte um Orientierung. Der Gang war ihm vertraut. Fast täglich war er hier entlanggegangen, seit die Klinik vor mehr als acht Jahren eröffnet worden war. Sein Büro lag am Ende eines ähnlichen Korridors, nur eine Treppe tiefer. In diesem Gebäude hatte er seinen Lebensunterhalt verdient. Es war ein guter Ort, ein sicherer Ort, ein vernünftiger Ort. Aber war dieser Ort real? War überhaupt irgendetwas real?
Der Flug von. Boston hierher, selbst die Fahrt vom Flughafen in die Stadt waren in der konkreten Erinnerung bereits verblasst und wirkten jetzt eher wie ein Traum. Er wusste nur noch, wie er auf dem Parkplatz des Flughafens in Kristas Chevette eingestiegen war. Daran erinnerte er sich mit schrecklicher Deutlichkeit. An den Duft ihres Parfüms, der immer noch im Wagen hing. An die Gegenstande, inzwischen bedeutungslos, die sie früher aufgrund ihrer Persönlichkeit mit Leben erfüllt hatte: die punkige, mit Strass-Steinen verzierte Sonnenbrille, die sie vergessen hatte, mit nach Boston zu nehmen; das ungeöffnete Päckchen von Trident-Kaugum-mi auf der Ablage des Armaturenbrettes; die hauchdünne Nylon-Strumpfhose auf dem Rücksitz, immer noch in ihrer Verpackung ...
kratz, kratz ... kratz, kratz, kratz ...
Scott machte sich auf den Weg, blieb vor dem Eingang zu Zimmer 117 jedoch wie angewurzelt stehen und fröstelte innerlich vor böser Vorahnung. Die letzten paar Schritte schaffte er nur, indem er den Rücken fest an die Wand presste.
Der Künstler saß im Rollstuhl am Fenster, dessen Jalousien heruntergelassen waren. Er wandte Scott den Rücken zu und zeichnete; das Geräusch des Bleistifts schien den ganzen Raum zu erfüllen.
Und plötzlich wurde Scott klar, dass er es nicht fertig bringen würde, dem Alten gegenüberzutreten. Vielleicht war er wirklich der Racheengel eines erzürnten Gottes ... Schließlich hatte sich Scott ja wirklich versündigt, hatte ein hilfloses Kind umgebracht und sich danach feige aus dem Staub gemacht.
Er bringt mich um, Daddy ...
Nein, das musste aufhören, und zwar sofort. Ob Gott, Dämon oder einäugiger Alien: Er würde sich ihm stellen.
Atemlos stürmte Scott ins Zimmer und entriss den mörderischen Händen das Klemmbrett. Der Zeichner - Nicholas Rowe - rührte sich nicht, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er sabberte nur, während seine schwarzen Augen .ohne zu zwinkern ins Leere starrten. Scott ließ den Blick über die beiden vollendeten Zeichnungen schweifen - aber genau wie die Friedhof-Serie wirkten diese Skizzen auf den ersten Blick mit nichts Realem verbunden, jedenfalls mit nichts, das Scott irgendetwas bedeutete. Die erste Zeichnung zeigte einen Richter, der sich mit grimmiger Miene die Verteidigungsrede eines Mannes anhörte, der in altmodischer Gefängniskleidung steckte. Auf dem zweiten Cartoon hielten zwei Wärter den Gefangenen fest, während der Richter das Urteil mit Hammerschlag bekräftigte. Die Kästen für die folgenden Cartoons waren zwar schon sorgfältig umrahmt, aber noch Unheil verkündend leer.