»Wenn es nur Dumas gewesen wäre«, sagte sie und wies ins Innere des Arbeitszimmers. »Sehen Sie sich das an.«
Corso gehorchte. Die Holzregale an den Wänden bogen sich unter dem Gewicht gebundener Wälzer. Er spürte, wie seine Speicheldrüsen zu arbeiten begannen. Ein beruflich bedingter Reflex. Er machte ein paar Schritte auf die Regale zu und faßte sich an die Brille: Die Gräfin von Charny, A. Dumas, acht Bände, La Novela Ilustrada, Herausgeber Vicente Blasco Ibänez. Die beiden Dianen, A. Dumas, drei Bände. Die drei Musketiere, A. Dumas, Miguel Guijarro, Stiche von Ortega, vier Bände. Der Graf von Monte Christo, A. Dumas, vier Bände, Juan Ros, Stiche von A. Gil. Des weiteren vierzigmal Rocambole, von Ponson du Terrail. Zévacos Les Pardaillan, vollständig. Und noch mehr Dumas, neben neun Bänden von Victor Hugo und ebenso vielen von Paul Féval, dessen Buckliger in einer Luxusausgabe vorlag, mit Saffianlederband und Goldschnitt. Dann Dickens’ Pickwickier in der Übersetzung von Benito Pérez Galdôs, zwischen mehreren Werken von Barbey d’Aurevilly und Eugène Sues Geheimnisse von Paris. Und dann noch mehr Dumas - Die Fünfundvierzig, Das Halsband der Königin, Die Genossen Jehus - und Mérimées Mateo Falcone. Fünfzehn Bücher von Sabatini, mehrere von Conan Doyle, Mayne Reid und Patricio de la Escosura ...
»Beeindruckend«, meinte Corso. »Wieviel Bände stehen hier?«
»Ich weiß es nicht. Zweieinhalb- bis dreitausend. Fast alles gebundene Erstausgaben von Fortsetzungsromanen, die vorher in Zeitungen erschienen sind . Daneben auch illustrierte Ausgaben. Mein Mann hat sie geradezu zwanghaft gesammelt und jeden Preis dafür bezahlt.«
»Ein echter Liebhaber, wie ich sehe.«
»Liebhaber?« Liana Taillefer zeigte ein undefinierbares Lächeln. »Für ihn war es die reinste Sucht.«
»Ich dachte, die Gastronomie .«
»Mit Kochbüchern hat er das Geld verdient. Enrique hatte etwas vom König Midas: In seinen Händen verwandelte sich jede billige Rezeptsammlung in einen Verkaufsschlager. Aber sein Herz gehörte diesen alten Fortsetzungsromanen. Er konnte sich stundenlang hier einschließen, nur um sie in die Hand zu nehmen. Sie sind gewöhnlich auf schlechtem Papier gedruckt, und er war von dem Gedanken besessen, sie konservieren zu müssen. Sehen Sie das Thermometer und das Hygrometer? Aus seinen Lieblingsschmökern konnte er ganze Seiten auswendig zitieren. Manchmal sind ihm sogar Ausdrücke wie >Alle Wettere, >Tod und Teufel< und ähnliches herausgerutscht. Die letzten Monate hat er damit verbracht, zu schreiben.«
»Einen historischen Roman?«
»Nein, einen Fortsetzungsroman. Selbstverständlich mit sämtlichen Gemeinplätzen, die zu dieser Gattung gehören.« Sie ging zu einem der Regale und entnahm ihm ein schweres Manuskript: fadengeheftete Druckbogen, die mit großen, runden Schriftzügen einseitig beschrieben waren. »Wie finden Sie den Titel?«
»Die Hand des Toten oder der Page Annas von Österreich«, las Corso laut. »Der Titel ist zweifellos, ähem ...«, er fuhr sich mit dem Finger eine Augenbraue nach, während er das angemessene Wort suchte, »vielversprechend.«
»Und langweilig, wie der ganze Text«, fügte sie hinzu, indem sie das Manuskript an seinen Platz zurücklegte. »Und voll von Anachronismen. Und absolut schwachsinnig, das kann ich
Ihnen versichern. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Nach jeder Schreibsitzung hat er mir Seite für Seite vorgelesen, vom Anfang bis zum Ende.« Sie klopfte wütend auf den Buchtitel, der in schönen Großbuchstaben ausgeführt war. »Mein Gott. Wie ich diesen Pagen und seine Königin, diese Hure, zum Schluß gehaßt habe!«
»Wollte Ihr Mann das veröffentlichen?«
»Na, klar. Und unter einem Pseudonym. Vermutlich hätte er dafür Tristan de Longueville, Paulo Florentini oder irgend etwas in dem Stil gewählt. Solche Spinnereien waren typisch für ihn.«
»Und sich zu erhängen? War das auch typisch für ihn?«
Liana Taillefer starrte auf die bücherbedeckten Wände und schwieg. Ein etwas künstliches Schweigen, sagte sich Corso. Ein Schweigen wie von einer Schauspielerin, die so tut, als ob sie nachdenkt, während sie in Wirklichkeit eine kurze Pause einlegt, um desto überzeugender in ihrem Dialog fortzufahren.
»Ich werde wohl nie herausbekommen, was wirklich vorgefallen ist«, antwortete sie schließlich, und ihre Selbstsicherheit war auch jetzt wieder umwerfend. »Während der letzten Woche war er ungesellig und deprimiert; er hat dieses Arbeitszimmer kaum noch verlassen. Und dann hat er eines Abends die Tür zugeschlagen und ist aus dem Haus gerannt. Im Morgengrauen kam er wieder zurück. Ich war im Bett und habe ihn kommen hören. Später wurde ich vom Geschrei des Dienstmädchens geweckt: Enrique hatte sich an der Lampe erhängt.«
Jetzt sah sie Corso an, gespannt auf den Effekt. Der Bücherjäger dachte an das Foto mit der Schürze und dem Spanferkel und fand, daß sie nicht übermäßig betrübt wirkte. Obwohl er sie irgendwann bei einem Blinzeln ertappte, als hätte sie Mühe, eine Träne zu unterdrücken, blieben ihre Augen völlig trocken. Aber das hieß gar nichts. Ganze Generationen von gefühlsanfälliger Schminke haben die Frauen gelehrt, sich zu kontrollieren. Und die Schminke Liana Taillefers, ein heller Lidschatten, der die Farbe ihrer Augen betonte, war perfekt.
»Hat er einen Brief hinterlassen?« fragte Corso. »Das tun Selbstmörder für gewöhnlich.«
»Nein. Die Arbeit hat er sich erspart. Keine Erklärung, keine einzige Zeile. Nichts. Diese Rücksichtslosigkeit hat dazu geführt, daß ich von einem Richter und ein paar Polizisten mit Fragen bombardiert wurde. Höchst unangenehm.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Sicher. Dazu gehört nicht viel.«
Für Liana Taillefer war die Begegnung hiermit abgeschlossen. Sie begleitete Corso, der seine Segeltuchtasche umgehängt und den Manuskriptordner unter den Arm geklemmt hatte, zur Tür und reichte ihm dort die Hand. Corso ergriff sie und fühlte einen festen Druck. Er kam nicht umhin, Liana Taillefer in Gedanken eine gute Note zu geben. Weder lustige Witwe noch völlig dem Schmerz ausgeliefert, noch kalt in der Art >ein Idiot ist gegangen< oder >endlich alleine< oder >du kannst aus dem Schrank kommen, Liebling<. Daß im Schrank jemand war, ließ sich allerdings vermuten, aber das ging Corso nichts an. Wie ihn auch der Selbstmord Enrique Taillefers nichts anging, so seltsam er anmuten mochte. Und er war bei Gott seltsam, mit dem Pagen der Königin und dem gehefteten Manuskript, das da noch hineinspielte. Aber das war, wie auch die schöne Witwe, nicht seine Sache. Jedenfalls im Moment.
Er sah Liana Taillefer an. >Ich wüßte zu gerne, wer sich augenblicklich an dir gütlich tut<, dachte er mit gelassener, technischer Neugier und erstellte im Geiste ein Phantombild: reif, stattlich, gebildet, wohlhabend. Mit fünfundachtzigprozen-tiger Wahrscheinlichkeit handelte es sich um einen Freund des Verblichenen. Er fragte sich auch, ob der Selbstmord des Verlegers womöglich damit zusammenhing, aber dann ekelten ihn die eigenen Gedanken. War es nun berufliche Deformation oder was auch immer, jedenfalls hatte er schon die Angewohnheit, wie ein Polizist zu denken. Schlagartig wurde ihm das klar. Man weiß tatsächlich nie, welch düstere Abgründe der Perversion oder der Dummheit die eigene Seele birgt.
»Ich möchte Ihnen dafür danken«, sagte er, während er das rührendste Nette-Häschen-Lächeln seines gesamten Repertoires aufsetzte, »daß Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben.«