»Obwohl er es mit der Wirklichkeitstreue nicht besonders genau nahm.«
»Das ist das Geringste. Wissen Sie, was er einmal geantwortet hat, als ihm vorgeworfen wurde, die Geschichte zu vergewaltigen? Sicher, ich vergewaltige sie. Aber ich mache ihr hübsche Bälger.«
Ich legte meinen Füllfederhalter aus der Hand, stand auf, öffnete einen der Bücherschränke, die ringsum die Wände meines Büros bedecken, und zog ein Buch mit dunklem Ledereinband heraus.
»Wie alle großen Fabulierer«, fügte ich hinzu, »erschuf Dumas Geschichten. Die Gräfin Dash, die ihn gut kannte, berichtet in ihren Memoiren, daß es ihm genügte, eine erfundene Anekdote zu erzählen, und schon war aus dieser Lüge eine glaubwürdige Geschichte geworden. Denken Sie nur an den Kardinal Richelieu. Er war der bedeutendste Mann seiner Zeit, aber seit er von Dumas >umgedeutet< worden ist, haben wir ein verzerrtes, unheimliches Bild von ihm: Er steht da wie ein niederträchtiger Schurke .«
Ich drehte mich, das Buch in der Hand, zu Corso um.
»Kennen Sie das? Das hat Gatien de Courtilz de Sandras geschrieben, ein Musketier, der Ende des 17. Jahrhunderts lebte. Es sind die Memoiren d’Artagnans und zwar des echten:
Charles de Batz-Castelmore, Graf von Artagnan. Ein Gascogner, der 1615 geboren wurde und in der Tat Musketier war; obwohl er nicht zur Zeit Richelieus gelebt hat, sondern zur Zeit Mazarins. Er starb 1673 während der Belagerung von Maastricht, als er - genau wie sein fiktiver Namensvetter - kurz davor stand, den Marschallstab zu erhalten. Wie Sie sehen, haben die Vergewaltigungen Alexandre Dumas’ wirklich prächtige Bälger hervorgebracht. Den unbekannten Gascogner aus Fleisch und Blut, dessen Name in der Geschichte untergetaucht war, hat der geniale Romancier in einen legendären Giganten verwandelt.«
Corso war sitzen geblieben und hörte mir zu. Ich reichte ihm das Buch, und er begann es behutsam durchzublättern. Langsam schlug er eine Seite nach der andern auf, indem er die Blätter immer nur am Rand anfaßte und dann sacht mit den Fingerkuppen darüberstrich. Ab und zu verweilte er bei einem Namen oder bei einem Kapitel. Die Augen hinter seinen Brillengläsern prüften rasch und sicher. Irgendwann hielt er inne, um den Titel und die dazugehörigen Daten auf seinem Block zu vermerken: Mémoires de M. d’Artagnan, G. de Courtilz, 1704, P. Rouge, 4 Bände, im Duodezformat, 4. Auflage. Dann schloß er das Buch, um mir einen langen Blick zuzuwerfen.
»Sie sagen es: Er war ein Schwindler.«
»Ja«, gab ich zu, während ich mich wieder setzte. »Aber genial. Wo andere sich darauf beschränkt hätten, plump abzuschreiben, hat er eine Romanwelt geschaffen, die heute noch begeistert. Der Mensch stiehlt nicht, er erobert, pflegte er zu sagen. Er macht aus jeder Provinz, die er einnimmt, einen festen Bestandteil seines Reiches: Er zwingt ihr seine Gesetze auf, er bevölkert sie mit Sujets und Gestalten und breitet seinen Geist über ihr aus. Was sonst ist literarisches Schaffen? Für Dumas stellte die französische Geschichte eine Goldgrube dar. Sein Trick war fabelhaft: den Rahmen respektieren - das Gemälde verändern, ungeniert die Schatztruhe plündern, die gefüllt und offen vor ihm stand ... Dumas verwandelt Hauptfiguren in Nebenfiguren, ruhmlose Komparsen in Protagonisten, und füllt ganze Seiten mit Ereignissen, die in der wirklichen Chronik gerade zwei Zeilen ihn Anspruch nehmen. Der Freundschaftsbund zwischen d’Artagnan und seinen Kameraden hat in Wahrheit nie existiert, schon deshalb nicht, weil sie sich untereinander gar nicht kannten. Es hat auch keinen Grafen de la Fère gegeben, oder besser gesagt, es gab viele, wenn auch keinen mit dem Namen Athos. Aber Athos existierte, er hieß Armande de Sillègue, Herr von Athos, und starb während eines Duells an einem Degenstich, bevor d’Artagnan den Musketieren des Königs beigetreten war. Aramis war Chevalier Henri de Aramitz und ab 1640 Mitglied der Musketiere, die von seinem Onkel befehligt wurden. Er zog sich nach Abschluß seiner Laufbahn mit Frau und vier Kindern auf sein Landgut zurück. Was Porthos betrifft .«
»Erzählen Sie mir nicht, es habe auch einen Porthos gegeben.«
»Doch, den hat es gegeben. Er hieß Isaac de Portau und muß Aramis oder Aramitz gekannt haben, denn er ist drei Jahre nach ihm, also 1643, Musketier geworden. Die Chronik berichtet, daß er sehr jung starb ... Wenn nicht an einer Krankheit, dann im Krieg oder wie Athos in einem Duell.«
Corso trommelte mit den Fingern auf den Memoiren von d’Artagnan und wackelte ein wenig mit dem Kopf. Er lächelte.
»Jetzt sagen Sie mir sicher gleich, es habe auch eine Milady existiert.«
»Genau. Aber die hieß nicht Anne de Breuil und war auch keine Milady de Winter. Mit einer Lilie war sie nicht gebrandmarkt, obwohl sie wirklich eine Agentin Richelieus war. Statt dessen hieß sie Gräfin von Carlisle und hat dem Herzog von Buckingham während eines Hofballs tatsächlich zwei Diamantnadeln gestohlen ... Machen Sie nicht so ein Gesicht! Das berichtet La Rochefoucauld in seinen Memoiren. Und La Rochefoucauld war ein ernst zu nehmender Mann!«
Corso sah mich starr an. Dabei war er keiner von denen, die sich leicht über etwas wundern, und schon gar nicht, wenn es um Bücher geht. Aber er zeigte sich beeindruckt. Später, als ich ihn besser kannte, habe ich mich gefragt, ob seine Verwunderung echt war oder nur vorgetäuscht. Heute, da alles vorbei ist, glaube ich, sicher zu sein: Ich war eine Informationsquelle mehr, und Corso ließ mir die Zügel schießen.
»Das ist alles sehr interessant«, sagte er.
»Replinger wird Ihnen noch viel mehr erzählen können, wenn Sie nach Paris gehen.« Ich betrachtete die Handschrift auf dem Tisch. »Ob das die Ausgaben für eine Reise lohnt, weiß ich allerdings nicht. Wieviel könnte dieses Kapitel auf dem Markt wert sein?«
Er kaute erneut an seinem Bleistift und verzog skeptisch das Gesicht.
»Nicht sehr viel. Aber darum geht es mir hier auch gar nicht.«
Ich lächelte traurig und verständnisvoll. Zu dem wenigen, was ich besitze, gehört ein Quijote von Ibarra und ein Volkswagen. Selbstverständlich hat mich das Auto mehr gekostet als das Buch.
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte ich freundschaftlich.
Corso machte eine Geste, die Resignation bedeuten konnte, und entblößte etwas seine Nagerzähne.
»Bis den Japanern van Gogh und Picasso zum Hals raushängen«, meinte er, »und sie alles in seltene Bücher investieren.«
Ich warf mich empört in meinen Bürosessel zurück.
»Gott steh uns bei, wenn es so weit kommen sollte.«
»Bestimmt schlimm für Sie«, er warf mir durch seine verbogene Brille hindurch einen ironischen Blick zu. »Ich gedenke jetzt schon, mich gesundzustoßen, Senor Balkan.«
Er verstaute den Block in seinem Mantel, während er sich erhob und seine Segeltuchtasche umhängte. Einen Moment lang irritierte mich auch jetzt sein Aussehen, so harmlos mit dieser Metallbrille, die ihm ständig von der Nase rutschte. Später erfuhr ich dann, daß er alleine lebte, zwischen eigenen und von Kunden bestellten Büchern, und daß er nicht nur ein bezahlter Jäger war, sondern auch Experte für Planspiele der napoleonischen Kriege, ohne weiteres in der Lage, auf einem Spielbrett aus dem Gedächtnis die Schlachtordnung vor Waterloo exakt nachzustellen: eine etwas seltsame Geschichte, die ich erst viel später einmal ganz in Erfahrung brachte. Ich muß zugeben, daß Corso, so wie ich ihn geschildert habe, nicht sehr sympathisch wirkt. Da ich mich bei meiner Erzählung aber strikt an die Tatsachen halten möchte, so sei hinzugefügt, daß seinem ungeschickten Auftreten, dem er - ohne daß ich Ihnen sagen könnte wie - je nach Bedarf etwas Aggressives oder Hilfloses, Naives oder Zynisches geben konnte, genau das anhaftete, was die Frauen als interessant und die Männer als sympathisch bezeichnen. Ein positiver Eindruck, der sich verflüchtigt, sobald wir auf die Hosentasche klopfen und feststellen, daß man uns soeben den Geldbeutel gestohlen hat.