Corso packte das Manuskript wieder ein, und ich begleitete ihn zur Wohnungstür. Im Flur, wo die Porträts von Stendhal, Joseph Conrad und Valle-Inclan finster auf die scheußliche Lithographie hinausblicken, die auf Beschluß der Hausbewohner und gegen meine Stimme vor ein paar Monaten im Treppenhaus aufgehängt worden war, blieb er stehen, um mir die Hand zu schütteln.
Erst in diesem Moment fand ich den Mut, mit meiner Frage herauszurücken: »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich gerne wüßte, wo Sie das Manuskript herhaben. Sie haben mich neugierig gemacht.«
Er zögerte, bevor er etwas erwiderte. Zweifellos wägte er das Pro und Kontra einer Antwort ab. Aber ich hatte ihn freundlich empfangen, und er stand in meiner Schuld. Außerdem mußte er womöglich noch einmal auf mich zurückkommen, so daß ihm keine andere Wahl blieb.
»Vielleicht kennen Sie ihn«, erwiderte er schließlich. »Mein Kunde hat es einem gewissen Taillefer abgekauft.«
Ich erlaubte mir, ein überraschtes Gesicht zu machen, freilich ohne zu übertreiben.
»Enrique Taillefer? Der Verleger?«
Sein Blick schweifte durch die Diele, schließlich bewegte er einmal den Kopf, von oben nach unten. »Genau der.«
Wir schwiegen beide. Corso zuckte die Schultern, und ich wußte sehr gut, warum. Der Grund dafür stand im Nachrichtenteil sämtlicher Tageszeitungen: Enrique Taillefer war seit einer Woche tot. Man hatte ihn erhängt im Wohnzimmer seines Appartements gefunden: den Gürtel seines seidenen Morgenmantels um den Hals, die Füße im Leeren baumelnd, über einem aufgeschlagenen Buch und den Scherben einer Blumenvase.
Einige Zeit später, als alles vorbei war, erklärte sich Corso bereit, mir den Rest der Geschichte zu erzählen. So kann ich jetzt ziemlich genau gewisse Einzelheiten rekonstruieren, obwohl ich sie nicht persönlich erlebt habe: die Verkettung von Umständen, die zu dem bitteren Ende führten, und die Auflösung des Rätsels um den Club Dumas. Dank der Hinweise des Bücherjägers kann ich in dieser Geschichte den Doktor Watson spielen und Ihnen erzählen, daß die folgende Szene eine Stunde nach unserer Begegnung stattfand, und zwar in Makarovas Bar.
Flavio La Ponte schüttelte sich das Wasser vom Mantel, stützte neben Corso die Ellbogen auf den Tresen und bestellte sich ein Glas Bier, während er langsam wieder Atem schöpfte. Dann sah er grimmig und zufrieden auf die Straße hinaus, als habe er sie unter dem Feuer von Heckenschützen überquert. Es schüttete sintflutartig.
»Die Firma >Armengol und Söhne, Buchantiquariat und Bibliographische Kuriositäten will dich verklagen«, sagte er. Bierschaum lag auf seinem lockigen, blonden Bart. »Ich habe gerade mit dem Anwalt telefoniert.«
»Warum?« fragte Corso.
»Du sollst eine arme alte Frau betrogen und außerdem noch ihre Bibliothek geplündert haben. Sie schwören, die sei ihnen versprochen gewesen.«
»Dann hätten sie eben früher aufstehen müssen als ich.«
»Das habe ich auch gesagt, aber sie schäumen vor Wut. Als sie den Posten abholen wollten, fehlten bereits der Persiles von Cervantes und der berühmte Fuero Real de Castilla, das Großbuch der rechtlichen Satzungen des Königreichs Kastilien. Außerdem hast du den Rest auf einen Preis geschätzt, der weit über dem wahren Wert liegt. Jetzt weigert sich die Besit-zerin zu verkaufen. Sie verlangt das Doppelte von dem, was sie ihr bieten.« Er trank einen Schluck Bier, während er vergnügt und komplizenhaft mit einem Auge zwinkerte. »Eine Bibliothek mit Beschlag belegen, sagt man zu diesem hübschen Manöver.«
»Ich weiß, wie man das nennt.« Corso entblößte seinen Eckzahn in hämischem Grinsen. »Und Armengol und Söhne wissen das auch.«
»So gemein hättest du nicht sein dürfen«, stellte La Ponte objektiv fest. »Aber am meisten schmerzt sie der Fuero Real. Sie empfinden es als Schlag unter die Gürtellinie, daß du ihn einfach mitgenommen hast.«
»Hätte ich ihn etwa dort lassen sollen? Eine lateinische Glosse von Diaz de Montalvo, ohne Druckermarke, aber mit Sicherheit von Alonso del Puerto in Sevilla herausgegeben, möglicherweise 1482.« Er rückte sich mit dem Zeigefinger die Brille zurecht, um seinen Freund anzusehen. »Wie findest du das?«
»Ich finde es toll. Aber die Armengols sind nervös.«
»Dann sollen sie Kamillentee trinken.«
Es war Mittag, und die Leute nahmen ihren Aperitif zu sich. Am Tresen war kaum Platz, und sie drängten sich Schulter an Schulter, inmitten von Zigarettenrauch und Stimmenlärm, darauf bedacht, mit ihren Ellbogen die Schaumpfützen auf der Theke zu vermeiden.
»Angeblich solle es sich bei dem Persiles um eine Erstausgabe handeln«, fügte La Ponte hinzu. »Einband von Traut-Bauzonnet.«
Corso schüttelte verneinend den Kopf.
»Von Hardy. In Saffianleder.«
»Noch besser. Jedenfalls habe ich geschworen, daß ich nichts mit der Sache zu tun habe. Du weißt ja, daß ich gegen Prozesse allergisch bin.« »Gegen deine dreißig Prozent aber nicht.«
Der andere hob würdevoll die Hand.
»Moment mal. Hier bringst du was durcheinander, Corso. Das eine ist die edle Freundschaft, die uns verbindet. Etwas ganz anderes das Brot, das ich für meine Kinder verdiene.«
»Du hast doch gar keine Kinder!«
La Ponte grinste.
»Laß mir noch ein bißchen Zeit. Ich bin ja noch jung.«
La Ponte sah sympathisch aus, etwas klein, eitel und sehr gepflegt. Er strich sich mit der Hand das Haar über seine beginnende Scheitelglatze und überprüfte das Ergebnis im Spiegel hinter der Bar. Dann suchte er seine Umgebung mit professionellem Blick nach einer weiblichen Präsenz ab. Auf solche Dinge legte er Wert, ebenso darauf, beim Sprechen kurze Sätze zu bilden. Sein Vater, ein hochgebildeter Buchhändler, hatte ihm das Schreiben beigebracht, indem er La Ponte Texte von Azorin diktierte. Nur wenige erinnerten sich noch an Azorin, aber La Ponte fuhr fort, wie er zu konstruieren. Mit vielen Punkten und ohne Absätze. Das gab ihm eine gewisse Redesicherheit, wenn er im Hinterzimmer seines Buchladens in der Calle Mayor, dort, wo er die Klassiker der Erotik aufbewahrte, Kundinnen verführen wollte.
»Abgesehen davon«, nahm er den Faden wieder auf, »habe ich mit Armengol und Söhnen noch ein paar delikate Geschäfte ausstehen. Und zwar ziemlich rentabel.«
»Mit mir auch«, bemerkte Corso über sein Bier hinweg. »Du bist der einzige arme Buchhändler, mit dem ich zusammenarbeite. Und diese Exemplare wirst du verkaufen.«
»Also gut«, lenkte La Ponte gelassen ein. »Du kennst mich ja: praktisch, pragmatisch, verworfen.«
»Eben.«
»Stell dir mich in einem Western vor. Für einen Freund würde ich höchstens einen Streifschuß riskieren.«
»Allerhöchstens«, nickte Corso.
»Aber ist ja auch egal.« Er sah sich zerstreut um. »Ich habe schon einen Käufer für den Persiles. «
»Dann zahl mir noch ein Glas. Und setz es auf die Rechnung!«
Sie waren alte Freunde. Sie mochten beide Bier mit viel Schaum und Bols Gin in dunklen Tonflaschen; vor allem jedoch antiquarische Bücher und die altmodischen Versteigerungen in der Altstadt von Madrid. Kennengelernt hatten sie sich vor vielen Jahren, als Corso im Auftrag eines Kunden Buchhandlungen durchstöberte, die auf spanische Autoren spezialisiert waren. Er suchte damals eine sagenumwobene Celestina, die einem Zitat zufolge noch älter war als die bekannte Ausgabe aus dem Jahr 1499. La Ponte hatte dieses Buch noch nie besessen, ja nicht einmal davon gehört. Dafür besaß er aber eine Ausgabe des Lexikons der bibliographischen Raritäten und Erfindungen von Julio Ollero, in dem es erwähnt wurde. Beim Plaudern über Bücher entdeckten sie eine gewisse Seelenverwandtschaft, die besiegelt worden war, nachdem La Ponte seinen Laden verriegelt hatte. Beide gingen in Makarovas Bar, um zu leeren, was es dort zu leeren gab, während sie Sammelbildchen von Melville austauschten und Flavio La Ponte von seiner Kindheit erzählte, die er praktisch an Bord der Pequod verbracht hatte, von kleinen Abstechern mit Azorin einmal abgesehen. »Nenn mich Ishmael«, sagte er, nachdem er den Pegel der dritten Bols-Flasche auf Null gedrückt hatte. Und Corso nannte ihn Ishmael, und nicht nur das, ihm zu Ehren zitierte er auch noch aus dem Gedächtnis die Episode, in der beschrieben wird, wie Ahab seine Harpunenspitze schmiedet: