»Nein.«
»Dann zeig sie doch an. Im Fachjargon nennt man so etwas Beihilfe zum Mord.«
»Sie anzeigen? Ich stecke bis zum Hals in dieser Sache drin, Flavio. Und du genauso.«
Das Mädchen hatte seine Lektüre unterbrochen und hielt dem Blick der beiden unbeirrt stand. Den Mund öffnete sie nur, um an ihrem Strohhalm zu nuckeln. In ihren Augen, die von einem zum anderen wanderten, spiegelte sich bald Corso, bald La Ponte. Schließlich blieben sie am Bücherjäger hängen.
»Vertraust du ihr wirklich?« wollte La Ponte wissen.
»Kommt darauf an. Gestern abend hat sie mich verteidigt, und das hat sie toll gemacht.«
Der Buchhändler zog zweifelnd den Mundwinkel nach unten und blickte das Mädchen von der Seite an. Bestimmt versuchte er, sie sich als Leibwächterin in Aktion vorzustellen, und wahrscheinlich fragte er sich auch, welchen Grad der Intimität das Verhältnis zwischen beiden erreicht hatte. Denn Corso sah, wie er fachmännisch seine Augen über den Kapuzenmantel wandern ließ und sich dabei den Bart kraulte. Jedenfalls stand fest, daß auch La Ponte ungeniert zugegriffen hätte, wenn ihm das Mädchen entgegengekommen wäre - verdächtig hin oder her. Selbst in Augenblicken wie diesem gehörte der ehemalige Generalsekretär der »Harpuniere von Nantucket« zu denjenigen, die es grundsätzlich in den Uterus zurückzieht. Und zwar egal in welchen.
»Nein, die ist zu hübsch.« La Ponte schüttelte den Kopf. »Und zu jung. Zu viel für dich.«
Corso lächelte.
»Du würdest dich wundern, wenn ich dir sage, wie alt sie manchmal aussieht.«
Der Buchhändler schnalzte skeptisch mit der Zunge.
»Solche Geschenke fallen nicht vom Himmel.«
Das Mädchen war den letzten Sätzen ihrer Unterhaltung aufmerksam gefolgt. Jetzt sahen die beiden, wie sie zum erstenmal an diesem Tag lächelte, als habe sie soeben einen guten Witz gehört.
»Du redest zuviel, Flavio Wieheißtdunochgleich«, sagte sie zu La Ponte, der betreten blinzelte. Ihr Lächeln wurde schärfer. »Was zwischen Corso und mir ist, geht dich jedenfalls einen Dreck an.«
Es war das erstemal, daß sie das Wort direkt an den Buch-händler richtete. Nach einem Augenblick der Verblüffung wandte dieser sich hilfesuchend an seinen Freund, aber Corso beschränkte sich auf ein leichtes Schmunzeln.
»Ich glaube, ich bin hier überflüssig.« La Ponte machte halbherzig Anstalten aufzustehen, indem er die Hände auf den Tisch stützte und sein Hinterteil vom Stuhl erhob. In dieser Stellung verharrte er, bis Corso ihm eine der aufgestützten Hände tätschelte.
»Sei kein Idiot! Sie ist auf unserer Seite.«
La Ponte schien erleichtert, aber immer noch nicht ganz überzeugt.
»Dann soll sie es beweisen und dir erzählen, was sie weiß.«
Corso wandte sich dem Mädchen zu, ihren halb geöffneten Lippen, ihrem warmen, weichen Hals. Er fragte sich, ob sie wohl noch immer nach Hitze und Fieber roch, und schwelgte einen Moment lang in Erinnerungen. Die schillernden grünen Augen, aus denen das Licht des Morgens strahlte, hielten seinem Blick wie immer ruhig und gelassen stand. Und ihr lächelnder Mund hauchte jetzt wieder ein Wort, unverständlich, aber irgendwie freundlich oder komplizenhaft.
»Wir haben von Varo Borja gesprochen«, sagte Corso. »Kennst du ihn?«
Die Lippen des Mädchens schlossen sich, und sie glich wieder einem erschöpften, gleichgültigen Soldaten. Aber dem Bücherjäger war es, als habe er den Bruchteil einer Sekunde lang einen Anflug von Verachtung in ihrem Blick wahrgenommen. Er legte eine Hand auf den Marmortisch:
»Wäre ja möglich, daß er mich benützt hat«, setzte er an. »Und daß er dich auf meine Fährte gesetzt hat, damit du mich kontrollierst.« Aber noch während er sprach, kam ihm die Idee, daß der steinreiche Bibliophile auf dieses Mädchen zurückgegriffen haben könnte, um ihm eine Falle zu stellen, plötzlich absurd vor. »Oder vielleicht sind Rochefort und Milady seine Spitzel.«
Anstatt eine Antwort zu geben, vertiefte sich das Mädchen erneut in die Drei Musketiere. Allerdings hatte Corso mit der Erwähnung Miladys den wunden Punkt La Pontes getroffen, der seine Kaffeetasse leerte und zugleich den Zeigefinger in die Luft reckte.
»Das ist genau das, was ich am allerwenigsten begreife«, sagte er. »Die >Dumas-Connection< ... Was hat mein Vin d’Anjou mit dieser Geschichte zu tun?«
»Der Vin d’Anjou ist durch puren Zufall in deine Hände gelangt.« Corso hatte seine Brille abgenommen und betrachtete besorgt das kaputte Glas. Ob es diese Hektik wohl noch eine Weile überstehen würde? »Aber du hast schon recht: Das Dumas-Manuskript ist der dunkelste Punkt der ganzen Story. Obwohl sich auch hier interessante Bezüge herstellen lassen . Kardinal Richelieu, der in den Drei Musketieren als perverser Bösewicht dargestellt wird, hat Bücher über Schwarze Magie gesammelt. Der Teufel verhilft einem zur Macht, wenn man mit ihm paktiert - Richelieu war der mächtigste Mann Frankreichs. Und um den >Cast< zu vervollständigen: In Dumas’ Roman hat der Kardinal zwei ergebene Agenten, die seine Befehle ausführen: den Grafen von Rochefort und Milady de Winter. Sie ist blond, ruchlos und vom Henker mit der Lilie der Ehrlosen gebrandmarkt worden. Er ist dunkelhaarig und hat eine Narbe im Gesicht ... Fällt dir was auf? Sie tragen beide ein Zeichen. Und wo wir schon dabei sind, Querverbindungen herzustellen: Der Johannesoffenbarung zufolge sind die Diener des Teufels am >Zeichen des Tieres< zu erkennen.«
Das Mädchen trank einen Schluck Limonade, ohne von ihrem Buch aufzusehen, aber La Ponte schauderte zusammen, als habe er einen brenzligen Geruch wahrgenommen. Man konnte ihm am Gesicht ablesen, was er dachte: Sich mit einer tollen Blondine einzulassen war etwas ganz anderes als ein Hexen-sabbat zwischen den Beinen. Corso sah, wie er sich besorgt abtastete.
»Verflucht noch mal. Ich hoffe, das ist nicht ansteckend.«
Der Bücherjäger warf ihm einen Blick zu, der nicht allzuviel Mitleid verriet.
»Viele seltsame Zufälle, nicht? Aber ich bin noch lange nicht am Ende . « Er hauchte auf das unversehrte Brillenglas und putzte es mit einer Papierserviette. »In den Drei Musketieren erfährt der Leser, daß Milady mit Athos verheiratet war, dem Freund d’Artagnans. Als Athos entdeckt, daß seine Frau vom Henker gebrandmarkt ist, beschließt er, das Urteil eigenhändig zu vollstrecken. Er knüpft sie an einem Baum auf und geht weg, in der Annahme, sie sei tot. In Wirklichkeit überlebt sie, und den Rest kennst du ja.« Corso rückte sich die Brille auf der Nase zurecht. »Irgend jemand in dieser Geschichte muß sich köstlich amüsieren.«
»Ich kann Athos gut verstehen«, sagte La Ponte und runzelte die Stirn in Gedanken an die unbezahlte Hotelrechnung. »Wenn es nach mir ginge, würde ich dieses Weib am liebsten auch aufhängen. Wie der Musketier seine Frau.«
»Oder wie Liana Taillefer ihren Mann . Tut mir leid, dich in deiner Eitelkeit verletzen zu müssen, Flavio, aber du hast sie in Wirklichkeit nie interessiert. Sie war bloß hinter dem Manuskript her, das der Verstorbene dir verkauft hatte.«
»Diese Hure«, brummte La Ponte wütend. »Bestimmt hat sie ihren Mann um die Ecke gebracht. Und der Typ mit dem Schnurrbart und dem Schmiß im Gesicht hat ihr dabei geholfen.«
»Aber eins verstehe ich immer noch nicht«, fuhr Corso fort, »die Verbindung zwischen den Drei Musketieren und den Neun Pforten ...Das einzige, was mir dazu einfällt, ist, daß auch Alexandre Dumas es - genau wie Richelieu - zu einer absoluten Vorrangstellung bringt. Er bekommt, was man sich nur wünschen kann: Ruhm, Geld, Frauen, Macht. In seinem Leben geht alles glatt . Als genieße er aufgrund eines seltsamen Bundes ein besonderes Privileg. Und als sein Sohn, der andere Dumas, stirbt, läßt er einen kuriosen Spruch in den Grabstein meißeln: >Er ist gestorben, wie er gelebt hat - ohne es zu merken.<« La Ponte sah Corso ungläubig an.