»Willst du etwa andeuten, Alexandre Dumas habe seine Seele dem Teufel verkauft?«
»Ich will überhaupt nichts andeuten. Ich versuche nur den Fortsetzungsroman zu entschlüsseln, den hier irgend jemand auf meine Kosten schreibt . Eins steht jedenfalls fest: Diese mysteriöse Geschichte beginnt damit, daß Enrique Taillefer das Dumas-Manuskript verkauft. Darauf baut alles andere auf: sein angeblicher Selbstmord, mein Besuch bei der Witwe, die erste Begegnung mit Rochefort ... Und der Auftrag Varo Borjas.«
»Was ist an dem Manuskript? Warum, und vor allem, für wen ist es so wichtig?«
»Keine Ahnung.« Corso warf einen Blick auf das Mädchen. »Es sei denn, sie erklärt es uns.«
Die beiden sahen, wie Irene Adler gelangweilt mit der Schulter zuckte, ohne von ihrem Buch aufzuschauen.
»Das ist deine Sache, Corso«, sagte sie. »Wenn ich recht verstanden habe, wirst du doch dafür bezahlt.«
»Aber du bist auch hineinverwickelt.«
»Bis zu einem gewissen Grad.« Sie machte eine vage Geste, die alles und nichts bedeuten konnte, und blätterte eine Seite weiter. »Nur bis zu einem gewissen Grad.«
La Ponte beugte sich pikiert zu Corso hinüber.
»Hast du es schon mal mit einer Ohrfeige probiert?«
»Halt den Mund, Flavio.«
»Genau: Halt den Mund«, wiederholte das Mädchen.
»Das ist doch alles lächerlich«, knurrte La Ponte. »Die redet daher, als wäre sie die Kaiserin von China. Und statt daß du ihr mal ordentlich den Kopf wäschst, läßt du sie einfach machen. Ich erkenne dich nicht wieder, Corso! So hübsch diese Göre auch ist, ich glaube nicht, daß .« Er stockte und suchte nach den passenden Worten. »Woher nimmt sie diese Dreistigkeit?«
»Sie hat sich mal mit einem Erzengel geprügelt«, erwiderte der Bücherjäger. »Und gestern abend habe ich gesehen, wie sie Rochefort die Fresse poliert hat . Erinnerst du dich? Derselbe, von dem ich heute morgen zusammengeschlagen wurde, während du dich aufs Bidet gesetzt hast.«
»Auf den Klodeckel.«
»Das ist doch egal.« Corso nahm einen hämischen Gesichtsausdruck an. »Mit deinem Pyjama ... Ich wußte gar nicht, daß du einen Pyjama trägst, wenn du mit deinen Eroberungen ins Bett gehst.«
»Was geht dich das an?« La Ponte blickte verwirrt zu dem Mädchen hinüber, während er ärgerlich den Rückzug antrat. »Mir wird es nachts kalt, damit du es weißt. Außerdem hatten wir es gerade mit dem Vin d’Anjou.« Er war offensichtlich erpicht, das Thema zu wechseln. »Wie weit bist du mit deinem Gutachten gekommen?«
»Ich weiß jetzt, daß das Manuskript echt ist. Die unterschiedlichen Handschriften stammen von Dumas und seinem Mitarbeiter Auguste Maquet.«
»Was hast du über den rausgebracht?«
»Über Maquet? Da gibt es nicht viel rauszubringen. Er hat sich mit Dumas zerstritten . Prozesse, Geldforderung und so fort. Aber soll ich dir was Nettes erzählen? Dumas hat sein ganzes Geld bereits zu Lebzeiten ausgegeben und ist ohne einen Heller gestorben. Maquet dagegen blieb ein reicher Mann und hat sich im Alter sogar noch ein Schloß gekauft. Im Grund ist es beiden gut ergangen - jedem auf seine Art.«
»Und dieses Kapitel, das sie beide geschrieben haben?«
»Die ursprüngliche Version, eine Rohfassung, stammt von
Maquet. Dumas hat sie korrigiert - teilweise direkt auf dem Original seines Mitarbeiters - und ihr Stil und Qualität gegeben. Das Thema kennst du ja: Milady versucht d’Artagnan zu vergiften.«
La Ponte starrte sorgenvoll in seine leere Kaffeetasse.
»Fazit?«
»Also ich würde sagen, daß sich hier irgend jemand für eine Art Reinkarnation Richelieus hält. Dieser Jemand hat es geschafft, alle Originalholzschnitte des Delomelanicon zusammenzubringen und obendrein das Dumas-Kapitel, das - aus einem unerfindlichen Grund - den Schlüssel zu der ganzen Geschichte enthält.« Corso lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Und während du deinem Manuskript nachtrauerst, Varo Borja seinem Buch und ich mich zum Gespött der Leute mache, versucht dieser Mensch vielleicht schon, den Teufel zu beschwören.« Er zog den Freibrief Richelieus aus der Tasche und sah ihn sich noch einmal an. La Ponte schien im wesentlichen einverstanden.
»Der Verlust des Manuskripts ist halb so schlimm«, meinte er. »Ich habe Taillefer nicht viel dafür bezahlt.« Er grinste spitzbübisch. »Und von Liana habe ich wenigstens in Naturalien kassiert. Aber du sitzt schön in der Klemme.«
Corso sah das Mädchen an, das schweigend las.
»Sie könnte uns wahrscheinlich sagen, warum ich in der Klemme sitze.«
Er zuckte mit den Mundwinkeln, bevor er - resigniert wie ein Kartenspieler, der passen muß - mit den Fingerknöcheln auf den Tisch klopfte. Aber auch diesmal erhielt er keine Antwort. Statt dessen gab La Ponte ein mißbilligendes Brummen von sich.
»Ich begreife immer noch nicht, warum du ihr vertraust.«
»Das hat er dir doch schon gesagt«, erwiderte das Mädchen endlich lustlos. Sie hatte ihren Strohhalm wie ein Lesezeichen zwischen die Seiten des Buches geklemmt. »Ich passe auf ihn auf.«
Corso nickte belustigt, obwohl er wahrhaftig nicht zum Spaßen aufgelegt war.
»Da hörst du es. Sie ist mein Schutzengel.«
»Wirklich? Dann hätte sie aber besser aufpassen sollen. Wo war sie, als Rochefort deine Tasche geklaut hat?«
»Du warst jedenfalls da.«
»Das ist etwas anderes. Ich bin ein friedfertiger Buchhändler. Friedfertig und kleinmütig. Das genaue Gegenteil von einem Mann der Tat. Ich könnte an einem Wettbewerb für Feiglinge teilnehmen, und selbst da würde die Jury mich noch disqualifizieren. Weil ich zu feige bin.«
Corso hörte ihm kaum noch zu, denn er hatte soeben eine Entdeckung gemacht. Der Schatten des Kirchturms fiel ganz in ihrer Nähe auf den Boden. Die breite, dunkle Silhouette war langsam vorgerückt, und das Kreuz der Turmspitze hatte beinahe die Füße des Mädchens erreicht. Hier aber schien der Schatten Halt zu machen. Keine Sekunde lang berührte er das Mädchen, gerade so, als wolle er einen Sicherheitsabstand einhalten.
Von einem Postamt aus telefonierte der Bücherjäger nach Lissabon, um sich zu erkundigen, wie der Fall Victor Fargas weitergegangen war. Er bekam keine sehr ermutigenden Nachrichten. Pinto hatte den Bericht des Gerichtsmediziners gelesen: Tod durch Ertrinken - allerdings unfreiwillig. Die Polizei von Sintra hatte Diebstahl als mutmaßliches Motiv für das Verbrechen angegeben. Täter unbekannt. Das einzig Positive war, daß im Augenblick noch niemand Corso mit der Sache in Verbindung brachte. Dann fügte der Portugiese noch hinzu, er habe für alle Fälle die Beschreibung des Typen mit der Narbe in Umlauf gesetzt. Corso sagte ihm, daß er Roche-fort vergessen könne. Der Vogel sei längst ausgeflogen.
Allem Anschein nach hätten die Karten gar nicht schlechter liegen können, aber gegen Mittag kam es noch dicker. Kaum hatte der Bücherjäger mit La Ponte und dem Mädchen die Empfangshalle seines Hotels betreten, da spürte er auch schon, daß etwas nicht stimmte. Grüber stand wie immer hinter der Rezeption, aber nach der gewohnten, unerschütterlichen Verbeugung las Corso eine Warnung aus seinen Augen. Er sah, daß der Portier, während sie auf ihn zuschritten, wie beiläufig einen Blick auf sein Schlüsselfach warf und danach mit einer Hand leicht das Revers der Livreejacke anhob. Eine Geste, die wohl überall auf der Welt verstanden wird.
»Jetzt nicht stehenbleiben«, sagte Corso zu den anderen.
La Ponte war so verblüfft, daß Corso ihn beinahe mit Gewalt hinter sich herziehen mußte, aber das Mädchen ging ihnen entschlossen und ruhig durch den engen Korridor zum Restaurant voraus, das sich auf die Place du Palais Royal hin öffnete. Als sie an der Rezeption vorbeikamen, konnte Corso gerade noch sehen, wie Grüber eine Hand auf den Telefonapparat legte, der auf der Theke stand.