Sie waren jetzt wieder auf der Straße, und La Ponte warf nervöse Blicke hinter sich.
»Was ist los?«
»Polizei«, sagte Corso. »In meinem Zimmer.«
»Woher weißt du das?«
Das Mädchen stellte keine Fragen. Sie beschränkte sich darauf, Corso in Erwartung neuer Orders anzusehen. Der Bücherjäger zog den Umschlag aus der Tasche, den ihm der Portier am Vorabend überreicht hatte, entnahm ihm die Mitteilung von der Unterkunft La Pontes und Liana Taillefers, und steckte statt dessen einen Fünfhundert-Francs-Schein hinein. Das alles tat er bewußt langsam, sich zur Ruhe zwingend, damit die beiden nicht merkten, wie sehr seine Hände zitterten. Nachdem er seinen eigenen Namen ausgestrichen und den Grübers darüber geschrieben hatte, verschloß er den Umschlag und reichte ihn dem Mädchen.
»Geh ins Café, und gib das einem der Kellner.« Seine Handteller waren feucht, er trocknete sie am Innenfutter seiner Manteltaschen ab und deutete dann auf eine Telefonkabine auf der anderen Seite des Platzes. »Danach treffen wir uns dort.«
»Und ich?« fragte La Ponte.
Corso war trotz der ungemütlichen Situation drauf und dran, seinem Freund ins Gesicht zu lachen. Aber er beließ es bei einem spöttischen Blick.
»Du kannst machen, was du willst. Obwohl ich fürchte, lieber Flavio, daß auch du in den Untergrund abtauchen mußt.«
Corso schlängelte sich durch den Autoverkehr, um den Platz in Richtung der Telefonkabine zu überqueren, ohne sich darum zu kümmern, ob der andere ihm folgte oder nicht. Als er die Glastür hinter sich zugezogen hatte und gerade die Telefonkarte in den Schlitz steckte, sah er La Ponte zwei Meter von sich entfernt auf dem Gehweg stehen und sich ängstlich und verloren umschauen.
Er wählte die Nummer des Hotels und ließ sich mit der Rezeption verbinden.
»Was ist passiert, Grüber?«
»Da sind zwei Polizisten gekommen, Monsieur Corso.« Die Stimme des alten SS-Mannes klang leise, aber ruhig. Er hatte die Situation wie immer im Griff. »Sie sind immer noch oben, in Ihrem Zimmer.«
»Haben sie irgendwelche Erklärungen abgegeben?«
»Nein. Sie haben gefragt, wann Sie in unserem Hotel abgestiegen sind, und ob ich wisse, was Sie heute nacht gegen zwei Uhr gemacht hätten. Ich habe die Frage verneint und sie an den Nachtportier verwiesen. Sie wollten auch eine Personenbeschreibung von Ihnen. Außerdem soll ich Bescheid geben, sobald Sie kommen. Und genau das wollte ich gerade machen.«
»Was werden Sie ihnen erzählen?«
»Die Wahrheit natürlich. Daß Sie kurz in der Empfangshalle erschienen und sofort wieder verschwunden sind, in Begleitung eines bärtigen Herrn, der mir unbekannt ist. Für die Mademoiselle haben sich die Polizisten nicht interessiert. Ich sehe also keinen Grund, sie zu erwähnen.«
»Danke, Grüber.« Corso machte eine Pause und lächelte in den Telefonhörer. »Ich bin unschuldig.«
»Selbstverständlich, Monsieur Corso. Das sind unsere Kunden immer.« Papier raschelte. »Ah. In diesem Moment hat man mir Ihren Umschlag gebracht.«
»Wir hören voneinander, Grüber. Halten Sie mein Zimmer noch zwei Tage frei. Ich hoffe, meine Sachen bald abholen zu können. Wenn es irgendein Problem gibt, benützen Sie die Nummer meiner Kreditkarte. Und buchen von meinem Konto ab. Also, dann . Nochmals vielen Dank.«
»Zu Ihren Diensten.«
Er hängte den Hörer ein. Das Mädchen, das bereits zurückgekehrt war, stand neben La Ponte. Corso verließ die Kabine und gesellte sich zu ihnen.
»Die Polizei hat meinen Namen . Das heißt, daß irgend jemand ihn ihr gegeben hat.«
»Was guckst du mich an?« fragte La Ponte. »Die Geschichte hier ist mir schon lange über den Kopf gewachsen!«
Mir auch, dachte Corso bitter. Er war nicht mehr in der Lage, das Steuer des stampfenden Schiffs zu halten.
»Fällt dir was ein?« fragte er das Mädchen. Sie war der einzige Faden in diesem verworrenen Knäuel, den er noch in der Hand hielt. Seine letzte Hoffnung.
Sie blickte über Corsos Schulter und den Verkehr hinweg zu den kunstgeschmiedeten Gittern des Palais Royal hinüber. Den Rucksack hatte sie abgenommen und zwischen ihre Füße auf den Boden gestellt. Sie schwieg wie gewöhnlich, während sie nachdachte - gedankenverloren und ernst. Die Falte zwischen ihren Augenbrauen verlieh ihr auch jetzt das Aussehen eines dickköpfigen kleinen Jungen, der sich weigert zu tun, was man von ihm erwartet. Corso grinste wie ein abgehetzter Wolf.
»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«
Er sah, wie das Mädchen langsam nickte, als sei es innerlich zu einem Schluß gekommen. Vielleicht wollte sie damit aber auch nur bestätigen, daß er in der Tat nicht wußte, was er machen sollte.
»Dein größter Feind bist du selbst«, sagte sie schließlich leise. Sie wirkte jetzt auch sehr erschöpft, wie am Vorabend bei ihrer Rückkehr ins Hotel. »Deine Phantasie.« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Vor lauter Bäumen siehst du den Wald nicht mehr.«
La Ponte gab ein ärgerliches Grunzen von sich.
»Spart euch die Botanik für später auf, wenn ihr nichts dagegen habt.« Er wurde von Minute zu Minute nervöser und rechnete jeden Augenblick damit, daß die Gendarmen über sie herfallen würden. »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Ich könnte auf meinen Namen einen Wagen mieten. Wenn wir uns beeilen, sind wir morgen über der Grenze. Morgen, am ersten April ... Ironie des Schicksals.«
»Halt die Klappe, Flavio.« Corso suchte in den Augen des Mädchens nach einer Antwort, aber er fand nur Spiegelbilder: der sonnenüberflutete Platz, der Verkehr um sie herum, sein eigenes, deformiertes und groteskes Abbild. Der besiegte Landsknecht. Es gab keine heroischen Niederlagen mehr. Diese Zeiten waren längst vorbei.
Der Gesichtsausdruck des Mädchens hatte sich verändert. Sie sah La Ponte an, als habe sie zum erstenmal etwas Interessantes an ihm entdeckt.
»Wiederhol das bitte«, sagte sie.
Der Buchhändler zögerte überrascht.
»Das mit dem Wagen?« fragte er und starrte sie mit offenem Mund an. »Ist doch klar. Bei Flügen gibt es Passagierlisten, im Zug kann dein Paß kontrolliert werden .«
»Das habe ich nicht gemeint. Sag uns noch mal, was morgen für ein Tag ist.«
»Der erste April. Montag.« La Ponte faßte sich verwirrt an die Krawatte. »Mein Geburtstag.«
Aber das Mädchen hörte ihm bereits nicht mehr zu. Sie hatte sich über ihren Rucksack gebeugt und kramte darin herum. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte sie die Drei Musketiere in der Hand.
»Du vernachlässigst deine Lektüren«, sagte sie zu Corso und reichte ihm das Buch. »Erstes Kapitel, erste Zeile.«
Corso, der mit so etwas nicht gerechnet hatte, griff nach dem Buch und warf einen Blick hinein. »Die drei Geschenke des alten d’Artagnan« lautete die Überschrift des ersten Kapitels. Und als er die erste Zeile las, wurde ihm klar, wo sie Milady zu suchen hatten.
XIV. In den Verliesen von Meung
Es war eine unheimliche Nacht.
Ponson du Terrail, Rocambole
Es war eine unheimliche Nacht. Die Loire schwoll immer heftiger an und drohte bereits über die alten Deiche des kleinen Dorfes Meung zu treten. Das Gewitter tobte seit den frühen Abendstunden. Hin und wieder tauchte im Wetterleuchten der düstere Schattenriß der Burg auf, und die grellen Blitze, die über den Himmel zuckten, sausten wie Peitschenhiebe auf die naß glänzenden mittelalterlichen Gassen hernieder, die ausgestorben dalagen. Jenseits des Flusses konnte man in der Ferne eine Lichterkette erkennen, die sich auf der Autobahn von Tours in Richtung Orléans schlängelte. Aber es war, als zögen die stürmischen Regenböen, die das Laub von den Bäumen rissen, einen Grenzzaun zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Im Gasthof »Saint-Jacques«, der einzigen Absteige in Meung, war ein Fenster hell erleuchtet. Es ging auf eine kleine Terrasse hinaus, die man von der Straße her erreichen konnte. Im Zimmer, das zu diesem Fenster gehörte, war eine attraktive blonde Frau mit aufgestecktem Haar dabei, sich vor dem Spiegel anzukleiden. Bevor sie in ihren Rock gestiegen war, hätte man auf einer ihrer Hüften eine winzige Tätowierung in Form einer Lilie erkennen können. Jetzt stand sie aufrecht im Zimmer und hakte sich im Rücken den BFI zu, der einen üppigen weißen Busen trug. Als nächstes schlüpfte sie in eine Seidenbluse, und während sie diese zuknöpfte, lächelte sie sich im Spiegel an. Sie schien von der eigenen Ausstrahlung angetan zu sein und dachte wahrscheinlich an ein bevorstehendes Rendezvous. Denn wer zieht sich schon elf Uhr nachts an, wenn er nicht mit jemandem verabredet ist? Aber vielleicht galt ihr zufriedenes Lächeln, in dem ein Anflug von Grausamkeit mitschwang, ja gar nicht dem eigenen Spiegelbild, sondern der funkelnagelneuen Ledermappe auf dem Bett, aus der die Manuskriptseiten des Vin d’Anjou von Alexandre Dumas dem Älteren hervorspickten.