Die kleine Terrasse vor dem Fenster wurde für ein, zwei Sekunden von einem Blitz erhellt. Unter einem kurzen Vordach, von dem der Regen troff, zog Lucas Corso zum letzten Mal an seiner feuchten Zigarette, bevor er sie wegschnippte und sich zum Schutz gegen Wind und Wasser den Mantelkragen hochschlug. Wieder zuckte ein Blitz - grell wie von einem überdimensionalen Fotoapparat - am Himmel auf und beleuchtete das bleiche Gesicht Flavio La Pontes mit triefendem Haar und Bart. In dem gespenstischen Licht-Schatten-Kontrast erinnerte er an einen griesgrämigen Mönch oder an den finster schweigenden Athos. Obwohl es eine Zeitlang nicht mehr blitzte, konnte man neben beiden, ebenfalls unter das Vordach geduckt, eine schlanke Silhouette ausmachen: Irene Adler in ihrem Kapuzenmantel. Und als dann wieder ein Blitz die Nacht zerschnitt und der Donner dröhnend über die Schieferdächer rollte, leuchteten unter der Kapuze, die das Mädchen tief ins Gesicht gezogen hatte, zwei grüne Punkte auf.
Es war eine schnelle, anstrengende Reise nach Meung gewesen. La Ponte hatte einen Wagen gemietet, mit dem sie ohne Halt durchgefahren waren. Zuerst über die Autobahn von Paris nach Orléans und dann sechzehn Kilometer in Richtung Tours. La Ponte, der auf dem Beifahrersitz im Licht eines Feuerzeugs die an einer Tankstelle gekaufte Straßenkarte studierte. La Ponte, der die Orientierung verlor: >Fahr noch ein Stück weiter, ich glaube, wir sind auf der richtigen Straße. Ja, das ist die richtige Straße.< Das Mädchen schweigend hinter ihnen, die Augen im Rückspiegel auf Corso gerichtet, sooft die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Fahrzeugs das Wageninnere erhellten. La Ponte hatte sich natürlich getäuscht. Sie waren an der richtigen Ausfahrt vorbei- und in Richtung Blois weitergefahren. Als sich der Irrtum herausgestellt hatte, mußten sie ein Stück rückwärts fahren, um von der Autobahn runterzukommen: Corso, der das Lenkrad umklammerte und betete, daß die Gendarmen bei dem Unwetter auf der Wache bleiben würden. Beaugency: La Ponte, der hartnäckig behauptete, man müsse den Fluß überqueren und links abbiegen, was sie glücklicherweise unterließen. Auf der Landstraße N-152 wieder zurück -derselbe Weg, den d’Artagnan im ersten Kapitel macht -, durch Sturm und Regen, am linken Ufer der tosenden Loire entlang, ohne auch nur eine Sekunde lang die Scheibenwischer abschalten zu können. Auf Corsos Gesicht Hunderte von hüpfenden Punkten - der Schatten des Regens -, wenn ihnen ein anderes Auto entgegenkam. Dann endlich menschenleere Gassen, mittelalterliche Dächer, Fachwerkfassaden: Meung-sur-Loire. Ziel der Reise.
»Wenn wir jetzt nicht reingehen, entwischt sie uns wieder«, flüsterte La Ponte, der völlig durchweicht war. Seine Zähne klapperten vor Kälte.
Corso beugte sich ein wenig vor, um noch einmal in das Zimmer zu spähen. Liana Taillefer hatte über die Bluse einen engen Pullover gezogen, der ihre Körperformen spektakulär zur Geltung brachte, und war gerade dabei, einen langen schwarzen Umhang, eine Art Domino, aus dem Schrank zu holen. Sie blickte sich zögernd um, warf dann das Cape über die Schulter und holte die Ledermappe mit dem Manuskript vom Bett. Da bemerkte sie erst, daß das Fenster offenstand, und ging darauf zu, um es zu schließen.
Genau in dem Moment, als sie nach der Klinke griff, schnellte Corsos Arm vor, und zugleich zuckte auch im Schein eines Blitzes sein nasses Gesicht auf, seine dunkle Silhouette vor dem Fenster und die ausgestreckte Hand, die wie anklagend auf die zur Salzsäule erstarrte Frau gerichtet war. Milady stieß in maßlosem Entsetzen einen beinahe tierhaften Schrei aus. Man hätte meinen können, sie habe den leibhaftigen Teufel gesehen.
Sie hörte erst auf zu schreien, als Corso über die Fensterbank setzte und ihr mit dem Handrücken eine so deftige Ohrfeige gab, daß sie auf das Bett zurückfiel und die Seiten des DumasManuskripts durch die Luft flogen. Durch den Temperaturunterschied hatte sich Corsos Brille beschlagen, so daß er sie rasch abnahm und auf den Nachttisch schleuderte, bevor er sich auf Liana Taillefer warf, die sich wieder aufgerichtet hatte und zur Tür stürzen wollte. Er erwischte sie noch an einem Bein, packte sie an der Taille und drückte sie ins Bett, während sie sich wand und strampelte. Sie war eine ausgesprochen kräftige Frau, und Corso fragte sich, was zum Teufel aus La Ponte und dem Mädchen geworden war. Da ihm keiner zu Hilfe kam, umklammerte er die Handgelenke der Witwe und drehte das Gesicht weg, das sie ihm mit den Nägeln zerkratzen wollte. Sie wälzten sich ineinander verknäuelt auf dem Bett, einer von Corsos Schenkeln rutschte zwischen ihre Schenkel, und seine Nase versank in der prallen Fülle der riesigen Brüste, die ihm aus der Nähe und durch den dünnen Wollpullover hindurch wieder unglaublich weich vorkamen. Er verspürte deutlich die Anzeichen einer aufkommenden Erektion und fluchte zähneknirschend, während er verzweifelt mit dieser Milady rang, die den Bizeps einer olympischen Rekordschwimmerin hatte. Er dachte verbittert: >Wo bist du, wenn ich dich brauche?< Aber da kam La Ponte, schüttelte sich wie ein nasser Hund und zeigte sich wild entschlossen, seine verletzte Eitelkeit zu rächen, vor allem jedoch Rache zu nehmen für die Hotelrechnung, die ihm noch immer auf dem Geldbeutel brannte. Es fehlte wenig, und sie hätten die Frau gelyncht.
»Ihr wollt sie doch nicht vergewaltigen, oder?« fragte das Mädchen.
Sie saß auf der Fensterbank, noch immer die Kapuze ihres Mantels auf dem Kopf, und verfolgte die Szene. Liana Taillefer hatte es aufgegeben, sich zu wehren, und lag jetzt reglos unter Corso, während La Ponte sie an einem Arm und Bein festhielt.
»Schweine!« sagte sie laut und deutlich.
»Flittchen! « erwiderte La Ponte, völlig außer Atem von dem Gefecht.
Nach dem kurzen Zwischenspiel beruhigten sich alle etwas. Sicher, daß die Witwe ihnen nicht entkommen konnte, ließen die beiden Männer sie los. Sie setzte sich wutschnaubend auf, massierte sich die Handgelenke und warf ihnen giftige Blicke zu. Corso stellte sich vorsichtshalber zwischen sie und die Tür. Das Mädchen lehnte am Fenster, das mittlerweile geschlossen war. Sie hatte sich die Kapuze nach hinten gestreift und musterte Liana Taillefer mit geradezu unverschämter Neugier. La Ponte frottierte sich mit einem Zipfel der Bettdecke Haar und Bart und machte sich dann daran, die über den Fußboden verstreuten Blätter des Dumas-Manuskripts einzusammeln.
»Wir wollen uns ein wenig unterhalten«, sagte Corso. »Wie vernünftige Menschen.«
Die Witwe warf ihm einen bitterbösen Blick zu.
»Es gibt nichts, worüber ich mit Ihnen reden möchte.«
»Da irren Sie sich, schöne Frau, fetzt, wo wir Sie erwischt haben, würde es mir nichts mehr ausmachen, zur Polizei zu gehen. Entweder Sie sprechen mit uns oder mit den Gendarmen.«
Sie sahen, wie Liana Taillefer die Stirn runzelte und nervös die Lage sondierte, wie ein gefangenes Tier, das nur auf eine Gelegenheit lauert, der Falle zu entkommen.