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»Paß auf!« warnte La Ponte seinen Freund. »Sie hat bestimmt was vor.«

Aus ihren Augen stachen tödliche Stahlspitzen. Corso verzog ein wenig theatralisch den Mund.

»Liana Taillefer«, sagte er, »oder sollte ich Sie vielleicht besser Anne de Brieul nennen oder Gräfin von La Fere, die auch unter dem Namen Charlotte Backson, Baronin von Sheffield und Lady de Winter aufgetreten ist; die ihren Mann und ihre Geliebten betrogen hat; die Mörderin, Giftmischerin und Geheimagentin Richelieus ...« Corso legte dramatisch eine Pause ein. »Und die man üblicherweise schlicht Milady nennt.«

Er unterbrach sich, denn er hatte soeben den Schultergurt seiner Segeltuchtasche entdeckt, der unter dem Bett hervorspickte. Ohne Liana Taillefer aus den Augen zu lassen, die unentwegt zur Tür schielte, zog er die Tasche unter dem Bett vor, prüfte mit einer Hand ihren Inhalt und stieß dann einen so lauten Seufzer der Erleichterung aus, daß alle Anwesenden, einschließlich der Witwe, ihn überrascht ansahen. Die Neun Pforten, Varo Borjas Exemplar, waren da und unversehrt.

»Hurra!« sagte er und zeigte es den anderen.

La Ponte machte eine Geste des Triumphs, als habe Quiqueg soeben den weißen Wal harpuniert. Aber das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck und blieb teilnahmslos, als wäre sie nur eine unbeteiligte Beobachterin.

Corso steckte das Buch in die Tasche zurück. Der Wind pfiff durch alle Ritzen des Raumes. Immer wieder riß ein Blitz die Umrisse des Mädchens aus der dunklen Fensterscheibe, die unter den dumpfen Donnerschlägen klirrte.

»Die Nacht ist wie geschaffen für unser kleines Vorhaben«, sagte Corso, an die Witwe gewandt. »Ihr seht, Milady, daß wir uns pünktlich zum Rendezvous eingefunden haben . Wir sind gekommen, Euch zu richten.«

»Wie Feiglinge: in der Gruppe und bei Nacht«, spie sie verächtlich zurück. »Fehlt nur noch der Henker von Lilie.«

»Alles zu seiner Zeit«, sagte La Ponte.

Liana Taillefer hatte sich etwas gefangen und fand vorübergehend zu ihrer alten Selbstsicherheit zurück. Sie hielt den Blicken der Männer mit herausfordernder Miene stand.

»Wie ich sehe, haben Sie sich völlig mit Ihren Rollen identifiziert.«

»Das sollte Sie nicht wundern«, entgegnete Corso. »Schließlich haben Sie und Ihre Komplizen alles daran gesetzt, um uns so weit zu bekommen.« Er verzog den Mund zu einem grausamen Wolfsgrinsen. »Und wir haben uns köstlich dabei amüsiert.«

Liana Taillefer preßte die Lippen zusammen, während einer ihrer blutrot lackierten Fingernägel über die Bettdecke fuhr. Corso folgte ihm so gebannt, als handle es sich um einen tödlichen Stachel, und schüttelte sich bei dem Gedanken, daß dieser Nagel während des Gefechts mehrmals fast sein Gesicht berührt hatte.

»Hier haben Sie jedenfalls nichts verloren«, sagte die Witwe schließlich. »Sie sind widerrechtlich bei mir eingedrungen.«

»Da täuschen Sie sich. Wir sind feste Bestandteile dieses Spiels, genau wie Sie.«

»Sie kennen aber nicht die Spielregeln.«

»Sie irren sich schon wieder, Milady. Und die Tatsache, daß wir hier sind, ist der beste Beweis.« Corso sah sich auf der Suche nach seiner Brille um, bis er sie auf dem Nachttisch entdeckte. Er setzte sie auf und rückte sie mit dem Zeigefinger zurecht. »Das war ja gerade das Komplizierteste an der ganzen Sache, sie als Spiel zu akzeptieren. Die Fiktion anzunehmen, in die Geschichte einzutauchen, die Außenwelt zu vergessen und ausschließlich im Rahmen der inneren Logik zu denken . Danach hatten wir es leicht. Denn während in der Wirklichkeit viel vom Zufall abhängt, verläuft in der Fiktion alles nach logischen Regeln.«

Der rote Fingernagel Liana Taillefers hielt inne.

»Auch in Romanen?«

»Vor allem in Romanen. Wenn der Held eines Romans der vorgegebenen Logik folgt, die natürlich die des Verbrechers ist, kommt er zwangsläufig zu denselben Ergebnissen. Das ist ja der Grund, weshalb sich am Ende immer alle treffen:

Held und Verräter, Detektiv und Mörder.« Corso war stolz auf seinen Exkurs und lächelte zufrieden.

»Hut ab«, sagte Liana Taillefer in ironischem Ton. Auch La Ponte starrte den Bücherjäger mit offenem Mund an, obwohl die Bewunderung in seinem Fall echt war. »Bruder William von Baskerville, vermute ich.«

»Seien Sie nicht oberflächlich, Milady. Sie vergessen Conan Doyle und Allan Poe, um nur zwei Beispiele zu nennen, ja selbst Dumas. Einen Moment lang hätte ich Sie beinahe für eine belesene Dame gehalten.«

Sie richtete ihre eiskalten Augen auf ihn.

»Da sehen Sie selbst, daß Sie Ihr Talent an mir verschwenden«, erwiderte sie verächtlich. »Sie brauchen ein anspruchsvolleres Publikum.«

»Ich weiß. Genau deshalb bin ich ja hierhergekommen: damit Sie uns dieses Publikum vorstellen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »In gut einer Stunde beginnt der erste April.«

»Wie haben Sie denn das wieder erraten?«

»Das habe ich nicht erraten.« Corso drehte sich zu dem Mädchen um, das nach wie vor am Fenster stand. »Sie hat mir das Buch unter die Nase gehalten . Und für die Aufklärung von Geheimnissen ist ein Buch hundertmal nützlicher als die schiere Realität: Es ist in sich geschlossen und vor lästigen Störungen geschützt. Wie das Studierzimmer Sherlock Holmes’.«

»Hör schon auf anzugeben, Corso«, meinte das Mädchen gereizt. »Du hast sie genügend beeindruckt.«

Liana Taillefer zog eine Augenbraue hoch und tat, als sehe sie das Mädchen zum erstenmal.

»Wer ist das?«

»Sagen Sie bloß, das wissen Sie nicht ... Sie haben die Seno-rita tatsächlich noch nie gesehen?«

»Nein. Man hat mir von einem jungen Mädchen erzählt, aber ohne nähere Angaben.«

»Wer hat Ihnen davon erzählt?«

»Ein Freund.«

»Groß, dunkelhaarig, mit Schnurrbart und einer Narbe im Gesicht? Zufällig auch mit einer geplatzten Lippe? Der gute Rochefort! Wo der seinen Unterschlupf hat, würde ich auch gerne wissen. Sicher nicht weit von hier ... Hübsche Rollen, die Sie sich beide da ausgesucht haben.«

Bei dieser Bemerkung verlor Milady auf einmal ihre eiserne Selbstbeherrschung. Ihr rot lackierter Fingernagel bohrte sich in die Bettdecke, als wäre es Corsos Fleisch, und das Eis in ihren Augen schmolz im Feuer der Wut dahin.

»Sind die anderen Romanfiguren etwa besser?« fragte sie spitz, während sie den Hals reckte und die beiden Männer, einen nach dem anderen, abschätzig musterte. »Athos, ein Säufer. Porthos, ein Trottel. Aramis, ein heuchlerischer Verschwörer .«

»Das ist auch ein Standpunkt«, gab Corso zu.

»Schweigen Sie! Was wissen Sie schon davon?« Liana Taillefer machte eine Pause und heftete - immer noch mit hoch erhobenem Kopf - den Blick auf Corso, als käme jetzt die Reihe an ihn. »Und was d’Artagnan betrifft«, fuhr sie fort, »so ist er der mieseste von allen . Ein Meister der Klinge? In den Drei Musketieren hat er nicht mehr als vier Duelle und siegt nur, weil er Jussac den Degen in den Leib bohrt, während dieser sich noch vom Boden aufrappelt, und weil Bernajoux ihm in einem Anfall blinder Wut in die Klinge rennt. Im Kampf mit den Engländern beschränkt er sich darauf, Lord Winter zu entwaffnen. Und um den Grafen von Wardes außer Gefecht zu setzen, muß er viermal zustoßen . Von Freigebigkeit kann bei d’Artagnan auch keine Rede sein.« Sie deutete mit dem Kinn verächtlich auf La Ponte. »Er war noch dreimal geiziger als Ihr Freund dort. Das erstemal, daß er seinen Freunden eine Runde spendiert, ist in England. Fünfunddreißig Jahre später!«

»Ich sehe, Sie sind Expertin, obwohl ich mir das eigentlich hätte denken müssen. All diese Fortsetzungsromane, die Sie angeblich so verabscheuen . Meinen Glückwunsch! Sie haben sie perfekt gespielt, die Rolle der Witwe, der die Spinnereien ihres Gatten zum Hals heraushängen.«

»Ich habe überhaupt nichts gespielt. Die Bibliothek meines Mannes bestand aus wertlosen alten Schmökern. Vielleicht kein Schund, aber absolut mittelmäßig. Wie Enrique selbst. Mein Mann war leider ziemlich beschränkt: Er hat es nicht verstanden, zwischen den Zeilen zu lesen, die Spreu vom Weizen zu trennen ... Er gehörte zu der Sorte von Dummköpfen, die ihr Leben lang Postkarten von Kunstdenkmälern sammeln, ohne je etwas davon zu verstehen.«