»Ganz im Gegensatz zu Ihnen.«
»Allerdings. Wissen Sie, welches die ersten Bücher waren, die ich als Kind gelesen habe? Kleine Frauen und die Drei Musketiere. Jedes von ihnen hat mich auf seine Art geprägt.«
»Mir kommen gleich die Tränen.«
»Reden Sie keinen Quatsch! Sie haben mir Fragen gestellt, und ich versuche, sie Ihnen zu beantworten . Es gibt kritiklose Leser, wie den armen Enrique, und Leser, die weitergehen, die sich nicht mit stereotypen Gemeinplätzen zufriedengeben: der tapfere d’Artagnan, der ritterliche Athos, der gutherzige Porthos, der treue Aramis ... Daß ich nicht lache!«
Sie tat es denn doch, dramatisch und unheilvoll wie Milady.
»Soll ich Ihnen sagen, wer mich in dem ganzen Roman wirklich beeindruckt hat, wen ich am meisten bewundere? Diese blonde Dame, die sich selbst und dem Mann treu ist, dem sie sich freiwillig unterstellt hat. Sie kämpft alleine, mit ihren eigenen Mitteln, und dann wird sie zum Schluß von diesen vier Pappmache-Helden gemein ermordet . Von dem geheimen Sohn, dem Waisen, der zwanzig Jahre später auftaucht, will ich erst gar nicht reden!«
Liana Taillefer neigte düster den Kopf zur Seite, und aus ihren Augen sprühte ein solcher Haß, daß Corso drauf und dran war, einen Schritt zurückzuweichen.
»Ich erinnere mich genau an das Bild, als wäre ich dabeigewesen: Es ist Nacht, man sieht einen Fluß und davor die vier Halunken, die sich niedergekniet haben, aber kein Erbarmen kennen. Am anderen Flußufer der Henker, der sein Schwert über dem nackten Hals der Frau erhoben hat .«
Das grelle Licht eines Blitzes huschte über ihr verzerrtes Gesicht, den weichen weißen Hals und ihre geweiteten Augen, in denen sich die Bilder der Tragödie spiegelten, als sei sie ihr selbst widerfahren. Dann grollte ein Donner und ließ die Fensterscheiben klirren.
»Elende Halunken«, wiederholte sie leise und gedankenverloren, aber Corso begriff nicht, ob sie ihn und seine Begleiter meinte oder d’Artagnan und seine Freunde.
Das Mädchen hatte unterdessen ihren Rucksack auf die Fensterbank gestellt und die Drei Musketiere daraus hervorgekramt. Ohne ihre unbeteiligte Haltung aufzugeben, suchte sie ruhig nach einer Seite. Als sie sie gefunden hatte, warf sie das Buch aufgeschlagen aufs Bett. Jetzt konnten alle den von Liana Taillefer beschriebenen Kupferstich betrachten.
»Vicia iacet virtus«, murmelte Corso etwas fröstelnd, als er die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dieser Illustration und der Bildtafel VIII aus den Neun Pforten feststellte.
Beim Anblick der Zeichnung hatte die Witwe sich wieder beruhigt. Sie zog kühl eine Augenbraue hoch.
»Stimmt«, sagte sie, »denn Sie wollen mir sicher nicht erzählen, die Tugend werde von d’Artagnan verkörpert. Ein Gascog-ner, der opportunistischer nicht sein könnte . Von seiner miserablen Begabung als Verführer will ich erst gar nicht sprechen. Im ganzen Roman erobert er nur drei Frauen, und zwei von ihnen durch Hinterlist. Seine große Liebe ist eine ehrgeizige Kleinbürgerin, eine Wäschebeschließerin der Königin. Die andere ist eine englische Zofe, die er schamlos benützt.« Liana Taillefers Lachen klang wie eine Beleidigung. »Und wie sieht sein Intimleben in Zwanzig fahre nachher aus? Dort lebt er mit der Besitzerin einer Pension in wilder Ehe zusammen, um die Miete zu sparen! Das sind mir schöne Abenteuer - mit Dienstmädchen und Wirtsfrauen treibt sich der Galan herum.«
»Aber er schafft es, Milady zu verführen«, wandte Corso boshaft ein.
Wieder brach ein ironischer Blitz das Eis in Liana Taillefers Augen. Wenn Blicke töten könnten, wäre der Bücherjäger im selben Moment leblos zu ihren Füßen zusammengesunken.
»Weil er sich als ein anderer ausgibt!« erwiderte die Witwe. »Nur durch einen Schwindel bringt dieser Schuft es fertig, mit Milady ins Bett zu kommen.« Ihre stahlblauen Augen wirkten jetzt wieder kalt und durchbohrten Corso wie ein Paar Degen. »Sie und er hätten ein feines Paar abgegeben!«
La Ponte lauschte den beiden mit größter Aufmerksamkeit. Man hörte beinahe die Rädchen in seinem Gehirn arbeiten. Plötzlich runzelte er die Stirn.
»Wollt ihr mir etwa sagen, daß ihr beide .«
Er drehte sich hilfesuchend nach dem Mädchen um: Warum erfuhr er alles immer als letzter? Aber sie blieb völlig ungerührt, als habe sie mit der ganzen Sache nichts zu tun.
»Ich bin ein Blödhammel«, sagte La Ponte, ging zum Fenster und begann, seinen Kopf an den Rahmen zu schlagen.
Liana Taillefer warf ihm einen geringschätzigen Blick zu, bevor sie sich wieder an Corso wandte.
»Mußten Sie den unbedingt auch mitschleppen?«
»Ich bin ein Blödhammel«, wiederholte La Ponte, während er seinem armen Kopf fürchterlich zusetzte.
»Er hält sich für Athos«, erklärte Corso zu seiner Entschuldigung.
»Mich erinnert er eher an Aramis. Eingebildet und aufgeblasen. Wußten Sie, daß er, wenn er mit einer Frau schläft, aus den Augenwinkeln sein Schattenprofil an der Wand betrachtet?«
»Was Sie nicht sagen!«
»Doch, tatsächlich.«
La Ponte beschloß, das Fenster in Ruhe zu lassen.
»Wir kommen vom Thema ab«, sagte er gereizt.
»Stimmt«, meinte Corso. »Wir hatten es mit der Tugend. Und Sie waren gerade dabei, uns in diesem Zusammenhang eine Lektion über d’Artagnan und seine Freunde zu erteilen.«
»Warum auch nicht? Finden Sie eine Bande von Angebern, die Frauen ausnützen, sich von ihnen aushallen lassen und nur daran denken, wie sie Karriere machen können, finden Sie solche Waschlappen etwa tugendhafter als eine Milady? Eine Milady, die intelligent und mutig ist, die ihrem Vorgesetzten, Richelieu, treu ergeben dient und ihr Leben für ihn riskiert?«
»Ja, sogar für ihn mordet.«
»Sie haben das Stichwort vorher selbst genannt: Die innere Logik der Erzählung.«
»Die innere? Das kommt aber ganz auf den Standpunkt an.
Ihr Mann wurde jedenfalls >außerhalb< des Romans umgebracht, >extern< und nicht >intern<. Sein Tod war sehr real!«
»Sie spinnen, Corso. Niemand hat Enrique umgebracht. Er hat sich selbst aufgehängt.«
»Und Victor Fargas? Ist der auch von sich aus ertrunken? Und die Baronin Ungern? Hat die gestern abend vielleicht vergessen, die Mikrowelle abzuschalten?«
Liana Taillefer wandte sich zuerst La Ponte, dann dem Mädchen zu, als erwarte sie sich von ihnen eine Bestätigung des soeben Gehörten. Seit der Invasion durchs Fenster wirkte sie zum erstenmal wirklich verblüfft.
»Wovon reden Sie?«
»Von den neun korrekten Bildtafeln«, sagte Corso. »Von den Neun Pforten ins Reich der Schatten.«
Durch das geschlossene Fenster drang, vom Rauschen des Regens und vom Tosen des Windes begleitet, der Glockenschlag einer Kirchturmuhr. Beinahe gleichzeitig antwortete irgendwo im Haus, am Ende des Korridors oder ein Stockwerk tiefer, eine Wanduhr mit elf Schlägen.
»Wie ich sehe, gibt es in dieser Geschichte noch mehr Verrückte«, sagte Liana Taillefer.
Ihr Blick war auf die Tür gerichtet. Mit dem letzten Glockenschlag gab es von dort her ein Geräusch. Jetzt blitzten die Augen der Witwe triumphierend auf.
»Vorsicht!« flüsterte La Ponte. Da begriff Corso endlich, daß Gefahr drohte. Und während ihm jäh das Adrenalin in die Venen schoß, nahm er aus den Augenwinkeln wahr, wie das Mädchen sich gespannt und wachsam vor dem Fenster aufrichtete.