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Der unterirdische Gang stieg jetzt leicht an. Von der Gewölbedecke herunter tropfte Wasser, und weiter vorn glühten kurz die Augen einer Ratte auf, bevor sie quietschend davonhuschte.

Am Ende des Korridors erkannte Corso im Licht der Taschenlampe einen kreisrunden Raum, dessen Kreuzgratgewölbe in der Mitte von einem mächtigen Pfeiler gestützt wurde.

»Das ist die Krypta«, erklärte Rochefort ihm, während er den Lichtkegel seiner Lampe über Wände und Decke wandern ließ. »12. Jahrhundert. Hier haben Frauen und Kinder Zuflucht gefunden, wenn die Burg angegriffen wurde.«

Sehr lehrreich. Nur, daß Corso absolut nicht in der Lage war, die Erläuterungen seines ungewöhnlichen Cicerones zu würdigen. Wachsam und gespannt lauerte er auf eine günstige Gelegenheit. Sie stiegen jetzt eine Wendeltreppe hinauf, durch deren Lichtscharten der schmale Widerschein des Gewitters drang, das jenseits der dicken Mauern weitertobte.

»Nur noch ein paar Meter, dann haben wir es geschafft«, bemerkte Rochefort hinter seinem Rücken. Die Taschenlampe leuchtete zwischen Corsos Beinen hindurch auf die Stufen, und seine Stimme klang versöhnlich. »Und wo wir uns jetzt dem Ende der Geschichte nähern«, fügte er hinzu, »muß ich Ihnen etwas sagen: Sie haben Ihre Sache trotz allem gut gemacht. Sonst wären Sie jetzt nicht hier ... Ich hoffe, daß Sie mir die Zwischenfälle an der Seine und im Hotel Grillon nicht allzu übel nehmen. Das waren Kunstfehler.«

Er präzisierte nicht, auf was für eine Kunst er sich bezog, aber das war auch egal, denn Corso drehte sich bereits nach ihm um, als wolle er ihm antworten oder eine Frage stellen! Das tat er auf eine so beiläufige, unauffällige Art, daß Rochefort keinen Verdacht schöpfte. Vielleicht reagierte er deshalb nicht, als Corso sich aus derselben Drehbewegung heraus auf ihn warf, gleich darauf aber Arme und Beine in die Wände stemmte, um nicht mitgerissen zu werden. Rocheforts Lage dagegen war aussichtslos: Corsos Angriff kam völlig überraschend, die Treppe war schmal, die Wände glatt und ohne Armlauf. Die Taschenlampe, die wie durch ein Wunder heil liegenblieb, beleuchtete verschiedene Momente der Treppensturzszene: Rochefort mit weit aufgerissenen Augen und verstörtem Gesicht, Rochefort, die Beine in der Luft, wie er verzweifelt ins Leere griff, Rochefort, kurz bevor er hinter der nächsten Biegung der Wendeltreppe verschwand, Rocheforts Hut, der von Stufe zu Stufe rollte, bis er schließlich auf einer zum Halten kam . Und wenige Sekunden später, sechs oder sieben Meter weiter unten, ein dumpfes Geräusch, wie von einem Sack, der auf den Boden plumpst.

Corso, der sich, wie bereits gesagt, mit Armen und Beinen an den Wänden abgestützt hatte, um seinem Gegner nicht hinterherzukullern, wurde nun wieder lebendig. Mit fliegendem Puls rannte er, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Er bückte sich nur kurz nach der Taschenlampe, und dann stand er schon neben Rochefort, der stöhnend am Fuß der Wendeltreppe lag und sich vor Schmerzen krümmte.

»Kunstfehler«, sagte Corso, während er sich mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, damit der andere sein freundliches Lächeln sehen konnte. Dann trat er ihm gegen die Schläfe und hörte, wie Rocheforts Kopf hart gegen die unterste Stufe schlug. Er hob den Fuß, um ihm sicherheitshalber noch einen Tritt zu versetzen, aber ein einziger Blick sagte ihm, daß dies überflüssig war: Rochefort lag mit offenem Mund da, aus seinem Ohr floß ein dünnes Rinnsal Blut. Corso beugte sich über ihn, stellte fest, daß er noch atmete, öffnete Rocheforts Trenchcoat und durchwühlte die Taschen. Er nahm das Springmesser an sich, eine Brieftasche mit Geld, einen französischen Personalausweis und die Mappe mit dem DumasManuskript, die er sich unter dem Mantel in den Gürtel steckte. Danach richtete er den Lichtkegel der Taschenlampe wieder auf die Wendeltreppe und stieg sie hinauf - diesmal ganz. Sie endete auf einem kleinen Absatz, von dem eine Tür mit schweren Eisenbeschlägen und sechseckigen Nägeln abging. Durch die untere Ritze drang ein schwacher Schimmer Licht. Hier blieb Corso etwa eine halbe Minute stehen, bis er wieder bei Atem war und sein Herzschlag sich einigermaßen beruhigt hatte. Hinter dieser Tür erwartete ihn die Lösung des Rätsels, und er schickte sich an, ihr entschlossen entgegenzutreten: mit zusammengebissenen Zähnen, in einer Hand die Taschenlampe, in der anderen das Messer Rocheforts, das mit einem bedrohlichen »Klack« aufsprang.

Und genauso sah ich Corso eine Sekunde später in die Bibliothek eintreten: mit gezücktem Messer, wild zerzaustem, nassem Haar und Augen, aus denen mörderische Entschlossenheit blitzte.

XV. Corso und Richelieu

Und ich, der ich einen kleinen Roman auf ihm aufgebaut hatte, irrte mich total.

P. Souvestre, Fantômas

Hier nun, glaube ich, ist es an der Zeit, noch einmal eindeutig meine Funktion als Erzähler darzulegen. Treu dem Prinzip, daß der Leser in Detektivromanen über dieselben Informationen verfügen muß wie der Held der Geschichte, habe ich mich bemüht, die Ereignisse aus der Sicht Lucas Corsos zu schildern. Ausnahmen stellen das erste und fünfte Kapitel dar, wo mir nichts anderes übrigblieb, als persönlich in Erscheinung zu treten. Dies soll nun zum dritten Mal geschehen, und dabei möchte ich - konsequenterweise - wie schon in den genannten Kapiteln in der ersten Person Singular erzählen. Zum einen fände ich es sehr unangemessen, von mir selbst als er zu sprechen: Das ist ein billiger Werbetrick, den Gaius lulius Caesar für De bello Gallico zur Aufwertung seines Images verwendet haben mag - in meinem Fall könnte man von unangebrachter Pedanterie sprechen, und das bestimmt zu Recht. Es gibt aber auch noch einen anderen, vielleicht etwas absonderlich anmutenden Grund: Ich finde es ganz einfach amüsant, die Geschichte in der Art eines Doktor Sheppard darzustellen, wie eine Unterhaltung mit Poirot. Nicht, daß ich mir dabei besonders innovativ vorkäme - schließlich macht das heutzutage alle Welt -, aber es bereitet mir doch einiges Vergnügen. Und warum schreibt man letztendlich? Um Spaß zu haben, um intensiver zu leben, um sich selbst zu beweisen oder wegen der Anerkennung der anderen. Für mich gelten gleich mehrere dieser Punkte. Wie sagte schon der alte Eugène Sue? Waschechte Bösewichte sind ein seltenes Phänomen. Gehen wir einmal davon aus, ich sei einer.

Tatsache ist, daß ich, Boris Balkan, der Verfasser dieser Zeilen, unseren Gast in der Bibliothek erwartete und Corso plötzlich mit gezücktem Messer und einem gefährlichen Glanz in den Augen eintreten sah. Mir fiel natürlich sofort auf, daß er ohne Begleitung war, und das beunruhigte mich ein wenig, aber ich versuchte, die Maske der Unerschütterlichkeit zu bewahren, die ich für eine solche Situation immer parat habe. Im übrigen war die Wirkung der Szenerie, die sich Corso bot, wohl kalkuliert: die dämmrige Bibliothek, die Kerzenleuchter auf dem Tisch, hinter dem ich saß, eine Ausgabe der Drei Musketiere in meiner Hand ... Ich trug sogar eine Jacke aus rotem Samt, den man leicht mit dem Kardinalspurpur in Verbindung bringen konnte.

Mein großer Vorteil war, daß ich den Bücherjäger, mit oder ohne Begleitung, erwartet hatte, er mich aber nicht. Ich beschloß also, den Überraschungsfaktor auszunützen. Das Messer in seiner Hand und der bedrohliche Ausdruck in seinen Augen verunsicherten mich, und es schien mir geraten, mit Worten etwaigen unüberlegten Handlungen zuvorzukommen.

»Ich beglückwünsche Sie«, sagte ich und schloß das Buch, als habe mich seine Ankunft in der Lektüre unterbrochen. »Sie haben es geschafft, das Spiel bis zum Ende durchzuhalten.«

Corso starrte mich vom anderen Ende des Zimmers aus an, und ich muß gestehen, daß mir die Ungläubigkeit, die ich in seinen Zügen las, große Genugtuung bereitete.

»Spiel?« stieß er mit heiserer Stimme hervor.

»Ja, Spiel. Spannung, Ungewißheit, Geschicklichkeit, Können . Freies Handeln nach obligatorischen Regeln, das seinen Sinn in sich selbst hat und mit einem Gefühl der Spannung und Freude einhergeht, weil man sich anders verhalten darf als im normalen Leben.« Das stammte zwar nicht von mir, aber darauf brauchte ich Corso ja nicht mit der Nase zu stoßen. »Wie finden Sie diese Definition? Schon im zweiten Buch Samuel steht geschrieben: Ruft die Kinder, und laßt sie vor uns spielen. Kinder sind ideale Spieler und Leser: Sie machen alles mit größtem Ernst. Im Grunde ist ein Spiel die einzig wirklich ernsthafte Beschäftigung, die es auf der Welt gibt. Dabei haben Skeptiker nichts verloren ... So ungläubig und zweiflerisch einer auch ist, wenn er mitspielen will, hat er keine andere Wahl, als sich den Regeln zu unterwerfen. Nur wer die Regeln respektiert oder sie zumindest kennt und befolgt, kann gewinnen . Dasselbe gilt fürs Lesen: Um eine Geschichte genießen zu können, muß man die Handlung und die Figuren akzeptieren.«