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Ich verlangsamte meinen Schritt und blieb schließlich mitten im Gang stehen. Corso sagte kein Wort. Das Licht des Kandelabers, den ich in der Hand hielt, beschien sein Gesicht von unten nach oben und ließ in seinen Augenhöhlen dunkle Schatten tanzen. Er schien völlig von meiner Erzählung gefangen und konnte es kaum erwarten, endlich das Geheimnis zu enthüllen, das ihn hierher geführt hatte. Aber seine rechte Hand blieb in der Tasche mit dem Messer.

»Meine Entdeckung«, fuhr ich fort und gab vor, die Hand nicht zu bemerken, »war von außerordentlicher Bedeutung. Man kannte wohl einzelne Fragmente der Originalfassung aus den Nachlässen Dumas’ und Maquets, aber niemand hätte sich träumen lassen, daß noch das gesamte Manuskript der Drei Musketiere existierte . Anfänglich dachte ich daran, meinen Fund in Form einer kommentierten Faksimile-Ausgabe zu veröffentlichen, aber dann kamen mir schwerwiegende moralische Bedenken.«

Corsos Gesicht hellte sich im Schein der Kerze einen Augenblick lang auf, er grinste.

»Moralische Bedenken? Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut.«

Ich bewegte den Kerzenleuchter in dem vergeblichen Versuch, das höhnische Grinsen aus seinem Gesicht zu löschen.

»Mir ist es durchaus ernst, Senor Corso«, sagte ich, während wir uns wieder in Bewegung setzten. »Das Studium des Manuskripts brachte mich zu der Einsicht, daß Auguste Maquet der eigentliche Erfinder der Geschichte war. Er hat die vorbereitenden Recherchen durchgeführt und den Roman in groben Zügen zu Papier gebracht. Später hat Dumas dank seines genialen Erzähltalents dieser Rohfassung Leben eingehaucht und sie in ein Meisterwerk verwandelt. Aber überzeugen Sie davon mal die Leute, die ewig über Dumas und sein Werk lästern!« Ich machte mit der freien Hand eine wegwerfende Geste. »Jedenfalls wollte nicht ausgerechnet ich derjenige sein, der ein Heiligtum demoliert - zumal in einer Zeit der Mittelmäßigkeit und Phantasielosigkeit. Wer ist heute noch in der Lage, sich für etwas zu begeistern, wie etwa die Leserschaft der alten Feuilletonromane oder das Theaterpublikum von einst, das die Verräter auf der Bühne auspfiff und den Rittern ohne Furcht und Tadel Beifall klatschte?« Ich schüttelte traurig den Kopf. »Nein ... heute applaudieren nur noch Kinder und Menschen, die jenseits von Gut und Böse sind.«

Corso hörte mir mit aufmüpfiger und spöttischer Miene zu. Ich weiß nicht, ob er meine Ansichten insgeheim teilte oder nicht. Jedenfalls war er nachtragend und weigerte sich, mein moralisches Alibi gelten zu lassen.

»Langer Rede kurzer Sinn«, sagte er: »Sie haben das Manuskript vernichtet.«

Er lächelte süffisant und besserwisserisch.

»Reden Sie keinen Quatsch! Ich habe etwas viel Besseres getan: Ich habe einen Traum verwirklicht.«

Wir waren vor der verschlossenen Tür des Festsaals stehengeblieben, aus dem gedämpftes Stimmengewirr und Musik drang. Ich stellte den Kerzenleuchter auf einer Konsole ab, während Corso mich wieder mißtrauisch ansah: Bestimmt fragte er sich, was für ein Streich ihn wohl diesmal erwartete. Offensichtlich war ihm noch immer nicht klar, daß er wirklich vor der Auflösung des Rätsels stand.

»Erlauben Sie«, sagte ich und öffnete die Tür, »daß ich Ihnen die Mitglieder des Club Dumas vorstelle.«

Fast alle Geladenen waren bereits eingetroffen. Durch die großen Glastüren, die sich auf die Esplanade der Burg öffneten, betraten die letzten Nachzügler den Salon, der vor Menschen wimmelte. Zigarrenrauch, angeregtes Geplauder und leise Hintergrundmusik füllten die Luft. In der Saalmitte war auf einem Tisch mit weißer Tafeldecke ein kaltes Büfett angerichtet worden: Flaschen mit Anjouwein, Würste und Schinken aus Amiens, Austern aus La Rochelle, Schachteln mit Monte-Christo-Zigarren. Die Gäste standen in Grüppchen herum, tranken und unterhielten sich in den unterschiedlichsten Sprachen. Es waren insgesamt um die fünfzig Männer und Frauen, und ich konnte beobachten, wie Corso sich an die Brille faßte, als wolle er überprüfen, ob sie noch auf der Nase saß. Viele der Gesichter mußten ihm aus Presse, Kino und Fernsehen bekannt sein.

»Überrascht?« fragte ich und betrachtete ihn neugierig.

Er nickte düster und sprachlos. Mehrere der Anwesenden kamen auf uns zu, um mich zu begrüßen. Ich schüttelte Hände, verteilte Komplimente, machte den einen oder anderen Witz. Die Atmosphäre war heiter und entspannt. Corso, der neben mir herging, machte das Gesicht eines Menschen, der gerade aus dem Bett gefallen ist, und ich amüsierte mich köstlich. Ja, ich konnte es mir nicht verkneifen, ihm ein paar Gäste vorzustellen und zu beobachten, wie er ihnen fassungslos die Hand reichte. Er hatte völlig den Boden unter den Füßen verloren. Seine Selbstsicherheit bröckelte förmlich von ihm ab, und das war meine kleine Revanche. Schließlich hatte er den ersten Schritt getan, als er mit dem Vin d’Anjou unterm Arm zu mir gekommen war, entschlossen, die Dinge zu komplizieren.

»Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen Senor Corso vorstelle. Bruno Lostia, ein Antiquitätenhändler aus Mailand. Pardon. Ja, genau. Thomas Harvey. Sie wissen schon, Juwelier Harvey: New York - London - Paris - Rom ... Und Graf von Schloßberg: Er besitzt die berühmteste private Gemäldesammlung Europas. Wir haben von allem etwas, wie Sie sehen: einen venezolanischen Nobelpreisträger, einen ehemaligen argentinischen Ministerpräsidenten, den marokkanischen Thronfolger. Wußten Sie übrigens, daß sein Vater ein leidenschaftlicher Leser Alexandre Dumas’ ist? Und schauen Sie, wer da kommt. Den kennen Sie, nicht? Semiotikprofessor in Bologna ... Die blonde Dame, die sich mit ihm unterhält, ist Petra Neustadt, die einflußreichste Literaturkritikerin Mitteleuropas. Und in der Gruppe dort drüben sehen Sie neben der Herzogin von Alba den Finanzier Rudolf Villefoz und den englischen Schriftsteller Harold Burgess. Amaya Euskal von der Gruppe Alpha Press neben dem mächtigsten Verleger der Vereinigten Staaten, Johan Cross von O & O Papers, New York ... Und an Achille Replinger, den Antiquar aus Paris, erinnern Sie sich bestimmt noch.«

Das gab Corso den Rest. Ich ergötzte mich an seinen entgleisten Gesichtszügen, obwohl er mir fast schon wieder leid tat.

Replinger hatte ein leeres Glas in der Hand und zeigte ein freundschaftliches Lächeln unter seinem Musketierschnurrbart, genau wie in seinem Laden in der Rue Bonaparte beim Begutachten des Dumas-Manuskripts. Er umarmte mich wie ein riesiger Bär, klopfte unserem Gast kameradschaftlich auf die Schulter und machte sich dann auf die Suche nach mehr Wein, wobei er schnaufte wie der pausbäckige, joviale Porthos.

»Verflucht noch mal«, flüsterte Corso und drängte sich in einem etwas abgelegenen Winkel an mich. »Was ist hier los?«

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß das eine lange Geschichte ist.«

»Dann erzählen Sie sie mir endlich!«

Wir waren inzwischen an den Tisch herangetreten, und ich schenkte uns zwei Gläser Wein ein, aber Corso lehnte seines kopfschüttelnd ab.

»Gin«, murmelte er. »Gibt es keinen Gin?«

Ich deutete auf einen Barschrank am anderen Ende des Saals, und wir machten uns zu ihm auf. Unterwegs wurden wir allerdings noch drei- oder viermal aufgehalten, weil ich weitere Gäste begrüßen mußte: einen bekannten Filmregisseur, einen libanesischen Millionär, einen ehemaligen spanischen Innenminister . Corso bemächtigte sich einer Flasche Beefeater, füllte ein Glas bis zum Rand und trank es in einem Zug halb leer. Er schüttelte sich ein wenig, und seine Augen glänzten. Die Gin-Flasche drückte er an sich, als habe er Angst, sie zu verlieren.

»Sie wollten mir was erzählen«, sagte er.

Ich schlug vor, auf die Terrasse hinauszugehen, um ungestört reden zu können, und Corso schenkte sein Glas noch einmal randvoll, bevor er mir folgte. Das Gewitter hatte sich mittlerweile vollständig verzogen. Über unseren Köpfen funkelten die Sterne.

»Ich bin ganz Ohr«, verkündete er und nahm einen großen Schluck.