Ich nippte an meinem Anjouwein und lehnte mich an die nasse Steinbalustrade.
»Gut . Ich war also in den Besitz des Manuskripts der Drei Musketiere gekommen. Das hat mich auf eine Idee gebracht«, sagte ich. »Warum nicht eine literarische Vereinigung gründen? Eine Art Fan-Club für die Verehrer Alexandre Dumas’ und des klassischen Fortsetzungs- und Abenteuerromans? Mit einigen geeigneten Kandidaten stand ich ja von Berufs wegen schon in Verbindung.«
Ich deutete in den hell erleuchteten Salon zurück. Hinter den großen Fenstern flanierten angeregt miteinander plaudernde Gäste. Die Veranstaltung war ein voller Erfolg. Ich konnte nicht verhehlen, daß ich sehr stolz auf meinen Einfall war. »Eine Gesellschaft, die sich mit dem Studium dieser Art von Literatur befaßt, die in Vergessenheit geratene Autoren und Werke ausgräbt und ihre Wiederveröffentlichung und Verbreitung fördert. Letzteres unter einem Verlagsnamen, der Ihnen nicht unbekannt sein dürfte: Dumas & Co.«
»Ja, ich kenne den Verlag«, sagte Corso. »Er hat seinen Sitz in Paris. Vor einem Monat sind die gesammelten Werke Ponson du Terrails bei ihm erschienen. Voriges Jahr war es Fantömas .Aber ich wußte nicht, daß Sie etwas damit zu tun haben.«
Ich schmunzelte.
»Das ist oberstes Gebot: keine Namen und keinen Personenkult . Sie sehen also, daß es hier um eine sehr seriöse und zugleich etwas infantile Angelegenheit geht - ein nostalgisches Literaturspiel, das sich um die Bücher dreht, von denen wir in unserer Jugend schwärmten, und bei dem wir sozusagen unsere verlorene Unschuld wiederfinden. Sie wissen das ja aus eigener Erfahrung: Wenn man einmal reif und erwachsen geworden ist, wird man zum Flaubertianer oder Stendhalianer, man ergreift die Partei Faulkners, Lampedusas, Garcia Marquez’, Durrells oder Kafkas. Jeder geht seinen eigenen Weg, manchmal streiten wir uns sogar. Aber wir alle blinzeln uns verschmitzt zu, wenn wir von bestimmten Schriftstellern und ihren magischen Büchern sprechen, die uns in die Welt der Literatur eingeführt haben, ohne an Dogmen zu binden und ohne falsche Lehren zu erteilen. Bücher, die nicht der Wirklichkeit treu sind, sondern den Träumen des Menschen. Bücher, die im wahrsten Sinne des Wortes unsere gemeinsame Heimat darstellen.«
Ich ließ diese Worte in der Luft und wartete gespannt auf ihre Wirkung. Aber Corso hob nur sein Gin-Glas, um es im Gegenlicht zu betrachten. Seine Heimat lag dort.
»Das hat früher vielleicht gegolten«, entgegnete er. »Jetzt sind die Kinder, die Jugendlichen und überhaupt das ganze Pack Heimatlose, die bloß in die Kiste glotzen.«
Ich schüttelte energisch den Kopf. Genau zu diesem Thema hatte ich zwei Wochen zuvor etwas für die Literaturbeilage von Abc geschrieben.
»Da täuschen Sie sich aber. Man tritt wieder in die alten Fußstapfen. Denken Sie nur an die vielen alten Filme, die im Fernsehen gezeigt werden - in ihnen lebt die Tradition weiter. Selbst Indiana Jones profitiert von diesem Erbe.«
Corso schnitt eine Grimasse in Richtung der erleuchteten Fenster. »Mag ja sein. Aber Sie wollten mir eigentlich von denen da drin erzählen. Ich wüßte zu gerne, wie Sie die ... rekrutiert haben.«
»Das ist kein Geheimnis«, erwiderte ich. »Ich bin seit zehn Jahren Koordinator dieser auserwählten Gesellschaft, des Club Dumas, dessen Jahresversammlung hier, in Meung, abgehalten wird. Sie sehen mit eigenen Augen, daß die Mitglieder pünktlich aus allen Ecken der Welt eintreffen. Selbst der Geringste unter ihnen ist ein hochkarätiger Leser .«
»Von Unterhaltungsromanen? Daß ich nicht lache.«
»Ich mache durchaus keine Witze, Senor Corso. Warum ziehen Sie so ein Gesicht? Sie wissen doch, daß ein Roman oder ein Film, der für den reinen Konsum geschaffen wurde, sich bisweilen in ein Meisterwerk verwandelt. Denken Sie nur an die Pickwickier, Goldfinger oder Casablanca ... Geschichten, die vor Archetypen strotzen - aber das ist es ja gerade, was das Publikum, bewußt oder unbewußt, anzieht: diese Strategie der Wiederholung bestimmter Themen mit kleinen Variationen. Hier geht es mehr um die dispositio als um die elocutio .. Und so erklärt es sich auch, daß ein Fortsetzungsroman, ja selbst die platteste Fernsehserie zu Kultobjekten werden können, und zwar sowohl für ein naives wie für ein anspruchsvolles Publikum. Der eine sucht allein die Spannung bei Sherlock Holmes, der andere bevorzugt die Pfeife, die Lupe und dieses elementar, lieber Watson, das übrigens gar nicht von Conan Doyle stammt; es taucht in keinem seiner Bücher auf. Der Trick mit der Wiederholung und Variation bestimmter Schemen ist sehr alt. Schon Aristoteles hat ihn in seiner Poetik erwähnt. Und was ist eine Fernsehserie im Grunde anderes als die modernisierte Version der klassischen Tragödie, des großen romantischen Dramas oder des hellenistischen Alexanderromans? Daher kommt es ja, daß auch ein gebildeter Leser sich ausnahmsweise mit dieser Art von Literatur vergnügen kann. Und Ausnahmen werden mitunter zur Regel.«
Ich hatte geglaubt, Corso höre mir interessiert zu, aber jetzt sah ich, daß er den Kopf schüttelte: ein Gladiator, der sich von seinem Gegner nicht in die Falle locken läßt.
»Hören Sie mit Ihren literarischen Belehrungen auf, und kommen Sie auf Ihren Club Dumas zurück«, knurrte er ungeduldig. »Auf dieses lose Kapitel ... Wo ist der Rest?«
»Dort drin.« Ich wies auf den Festsaal. »Ich habe die siebenundsechzig Kapitel des Manuskripts benützt, um die Gesellschaft zu organisieren: maximal siebenundsechzig Mitglieder, von denen jeder ein Kapitel besitzt, quasi als Namensaktie. Die Zuteilung erfolgt strikt anhand einer Kandidatenliste, und Besitzerwechsel müssen vom Vorstand genehmigt werden, dessen Präsident ich bin . Die Namen der Anwärter werden vor ihrer Zulassung ausführlich diskutiert.«
»Und wie werden die Aktien weitergegeben?«
»Sie werden überhaupt nicht weitergegeben. Wenn ein Clubmitglied stirbt oder austreten möchte, so geht seine Aktie automatisch an die Gesellschaft zurück. Der Vorstand teilt sie dann einem neuen Kandidaten zu. Kein Mitglied darf frei darüber bestimmen.«
»Und das hat Enrique Taillefer versucht, stimmt’s?«
»In gewisser Weise. Anfänglich war er ein idealer Kandidat und später ein mustergültiges Mitglied des Club Dumas ... Bis er gegen seine Regeln verstoßen hat.«
Corso leerte sein Glas und stellte es auf die Steinbrüstung. Dann starrte er eine Zeitlang schweigend in den lichtergleißenden Saal. Zum Schluß schüttelte er ungläubig den Kopf.
»Das ist kein Grund, jemanden umzubringen«, sagte er leise, als spreche er zu sich selbst. »Und ich kann mir nicht vorstellen, daß alle diese Leute ...« Er sah mich trotzig an. »Das sind bekannte und respektable Persönlichkeiten, jedenfalls im Prinzip. Die würden sich nie in so eine Sache hineinziehen lassen.«
Langsam begann auch ich die Geduld zu verlieren.
»Ich habe das Gefühl, Sie übertreiben maßlos. Enrique und ich waren seit langem miteinander befreundet. Was uns verband, war die Begeisterung für diese Art von Büchern, obwohl ich sagen muß, daß Enriques literarischer Geschmack und sein Enthusiasmus leider weit auseinanderklafften. Aber wie auch immer . Als Verleger gastronomischer Bestseller war er so erfolgreich, daß er haufenweise Geld und Zeit in sein Hobby investieren konnte. Und wenn es jemand verdient hatte, unserer Gesellschaft anzugehören, so war das er - so viel steht fest. Aus diesem Grund habe ich seinen Beitritt gefördert. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß wir, wenn auch nicht den Geschmack, so doch die Begeisterung teilten.«
»Sie haben auch noch andere Sachen geteilt, wie mir scheint.«
Corsos sarkastisches Grinsen ärgerte mich ein wenig.
»Eigentlich könnte ich Sie jetzt darauf hinweisen, das sei nicht Ihre Angelegenheit«, erwiderte ich etwas verschnupft. »Aber ich will Ihnen alles erklären . Liana ist - von ihrer Schönheit ganz abgesehen - schon immer eine besondere Frau gewesen. Und darüber hinaus seit ihrer frühen Jugend eine leidenschaftliche Leserin. Wissen Sie, daß sie sich im Alter von sechzehn Jahren mit einer Lilie tätowieren ließ? Nicht auf die Schulter, wie Milady de Winter, ihr Idol, sondern auf die Hüfte, damit weder ihre Familie noch die Nonnen im Internat etwas davon merkten . Wie finden Sie das?«