Corso kaute an seiner kalten Zigarette.
»Später haben sich die Dinge noch etwas verwickelt«, fuhr ich fort und merkte, daß er mir nur langsam zu glauben schien. »Das Manuskript war bereits an Sie weitergereicht worden, und Ihr Freund La Ponte zeigte sich anfänglich nicht bereit, es zurückzugeben. Für mich kam es nicht in Frage, den Arsène Lupin zu spielen. Das hätte ich mir bei meinem Ansehen nicht leisten können. So habe ich Liana mit der Wiederbeschaffung des Kapitels beauftragt. Die Jahresversammlung rückte näher, und es war an der Zeit, einen Nachfolger für Enrique zu bestimmen. Leider hat Liana ein paar Fehler begangen. Zuerst hat sie Ihnen einen Besuch abgestattet«, an dieser Stelle räusperte ich mich verlegen, um nicht tiefer ins Detail gehen zu müssen, »und später hat sie versucht, La Ponte so weit zu bringen, daß er den Vin d’Anjou von Ihnen zurückverlangte. Sie wußte ja nicht, wie hartnäckig Sie sein können . Das Schlimme ist, daß Liana schon immer davon geträumt hatte, einmal ein richtig spannendes Abenteuer zu erleben - voll von Intrigen, Liebesaffären und Verfolgungsjagden, wie bei ihrem Vorbild Milady. Und diese Episode, aus dem Stoff ihrer Träume gemacht, gab ihr dazu eine willkommene Gelegenheit. Sie hat sich also voller Enthusiasmus auf Ihre Fersen geheftet. >Ich bringe dir das Manuskript in die Haut dieses Corso genähte, hat sie mir versprochen. Ich sagte ihr, sie solle nicht übertreiben, aber ich muß zugeben, daß die Hauptschuld bei mir liegt: Ich habe ihre Phantasie angeregt und damit die Milady freigesetzt, die in ihr schlummerte, seit sie zum erstenmal die Drei Musketiere gelesen hatte.«
»Sie hätte ja, verdammt noch mal, auch was anderes lesen können. Vom Winde verweht zum Beispiel, sich mit Scarlett O’Hara identifizieren und Clark Gable auf den Pelz rücken können, anstatt mir.«
»Ja. Ich muß zugeben, daß sie ein bißchen zu weit gegangen ist und ihren Auftrag zu ernst genommen hat.«
Corso kratzte sich am Hinterkopf, und es war leicht zu erraten, was er dachte: Wer die Sache wirklich ernst genommen hatte, war der andere gewesen. Der Kerl mit der Narbe.
»Wer ist Rochefort?«
»Er heißt in Wirklichkeit Laszlo Nicolavic und ist ein Schauspieler, der sich auf verschiedene Nebenrollen spezialisiert hat ... Er hat in der TV-Serie, die Andreas Frey vor zwei fahren fürs englische Fernsehen gedreht hat, den Rochefort gespielt. Überhaupt hat er nahezu alle bekannten Haudegen schon einmal verkörpert: Gonzaga in Lagardere, Levasseur in Käpt’n Blood, La Tour d’Azyr in Scaramouche, Rupert von Hentzau in Der Gefangene von Zenda ... Er ist ein großer Liebhaber dieser Gattung und ein Anwärter auf den Club Dumas. «
»Jedenfalls hat sich dieser Laszlo seine Rolle auch sehr zu Herzen genommen.«
»Ich fürchte ja. Und ich habe ihn im Verdacht, daß er Meriten anhäufen will, um seinen Beitritt in unseren kleinen Geheimbund zu beschleunigen. Ich habe ihn auch im Verdacht, manchmal den Gelegenheitsliebhaber zu spielen.« Ich setzte ein weltmännisches Lächeln auf und hoffte, es würde überzeugend wirken. »Liana ist jung, schön und leidenschaftlich. Wir wollen es einmal so sagen: Ich befriedige mit ruhigen, romantischen Ergüssen ihren Wissensdrang, und Laszlo Nicolavic kümmert sich wahrscheinlich um die prosaischeren Seiten ihres Naturells.«
»Und was weiter?«
»Viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Nicolavic-Rochefort wollte eine günstige Gelegenheit abpassen, um Ihnen das Dumas-Manuskript abzunehmen. Deshalb ist er Ihnen von Madrid nach Toledo und nach Sintra gefolgt, während Liana mit La Ponte nach Paris ging, für den Fall, daß Rocheforts Mission schiefgehen sollte. Der Rest ist Ihnen ja bekannt: Sie wollten sich das Manuskript nicht abnehmen lassen, Milady und Rochefort haben über die Stränge geschlagen, und so sind Sie letztendlich hier gelandet.« Ich dachte eine Weile nach. »Wissen Sie was? Ich frage mich, ob ich statt nicht Sie als neues Clubmitglied vorschlagen soll.«
Corso wollte nicht einmal wissen, ob ich das ernst oder ironisch meinte. Er hatte seine verbogene Brille abgenommen und putzte sie mechanisch, aber in Gedanken war er Lichtjahre entfernt.
»Das ist alles?« hörte ich ihn endlich sagen.
»Aber ja.« Ich deutete auf den Festsaal. »Dort haben Sie den Beweis.«
Corso setzte seine Brille wieder auf und atmete tief durch, wobei sein Gesicht einen Ausdruck annahm, der mir überhaupt nicht gefiel.
»Und was ist mit dem Delomelanicon? Was ist mit der Verbindung zwischen Richelieu und den Neun Pforten ins Reich der Schatten?«
Er trat auf mich zu und klopfte mit dem Finger auf meine Hemdbrust, bis ich einen Schritt zurückwich.
»Halten Sie mich für blöd? Sie wollen mir doch nicht erzählen, Sie hätten keine Ahnung von der Beziehung zwischen Dumas und diesem Buch . dem Teufelspakt und dem ganzen Rest: der Mord an Victor Fargas in Sintra, der Brand in der Wohnung von Baronin Ungern in Paris. Haben Sie mich bei der Polizei angezeigt? Und was können Sie mir zu dem Buch sagen, das eigentlich aus drei Versionen besteht? Oder zu den neun Bildtafeln, die von Luzifer entworfen und von Aristide Torchia nach seiner Rückkehr aus Prag neu aufgelegt worden sind, mit Privileg und Genehmigung der Obrigkeiten? Was erzählen Sie mir darüber, ha?«
Es sprudelte wie ein Wasserfall aus ihm heraus, während er aggressiv das Kinn vorreckte und mich mit Blicken durchbohrte. Ich trat noch einmal einen Schritt zurück und starrte ihn entgeistert an.
»Sie haben den Verstand verloren«, protestierte ich entrüstet. »Können Sie mir erklären, wovon Sie sprechen?«
Corso hatte eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche gezogen und zündete sich seine Zigarette an, indem er die Flamme mit der hohlen Hand schützte. Dabei beobachtete er mich unablässig durch seine Brille hindurch, in deren Gläser sich das Feuer spiegelte. Dann begann er mir seine Version der Geschichte zu erzählen.
Als er fertig war, schwiegen wir beide. Wir lehnten nebeneinander an der feuchten Steinbalustrade und betrachteten die Lichter im Festsaal. Corsos Bericht hatte eine Zigarette lang gedauert. Den Stummel trat er mit der Schuhspitze aus.
Ich ergriff als erster das Wort.
»Und jetzt müßte ich wohl sagen >Ja, so war es< und meine Arme ausstrecken, damit Sie mir die Handschellen anlegen können. Das hätten Sie doch erwartet, oder?«
Er dauerte eine Weile, bis er mir antwortete. Den eigenen Verdacht laut ausgesprochen zu haben schien ihn nicht unbedingt in seinen Schlußfolgerungen bestätigt zu haben.
»Aber es muß eine Verbindung geben«, murmelte er.
Ich betrachtete seinen schmalen Schatten, den das aus dem Salon dringende Licht auf den Marmorboden der Terrasse zeichnete und bis über die Stufen hinaus verlängerte, die in den dunklen Garten führten.
»Ich fürchte, daß Sie Ihrer eigenen Phantasie auf den Leim gegangen sind«, sagte ich schließlich.
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Daß Victor Fargas ertränkt wurde, habe ich mir nicht eingebildet. Und auch nicht, daß die Baronin Ungern mit ihren Büchern verbrannt ist. Diese Dinge sind wirklich passiert. Das sind Tatsachen . Die beiden Geschichten sind ineinander verflochten.«
»Sie sagen ganz richtig: die beiden Geschichten. Vielleicht verbindet sie aber nur Ihre eigene Person miteinander.«
»Kommen Sie mir nicht damit. Dieses Kapitel von Alexandre Dumas war der Auslöser von allem.« Er sah mich wütend an. »Ihr verdammter Club. Ihre >Spielchen<.«