Выбрать главу

»Schieben Sie nicht mir die Schuld in die Schuhe. Spielen ist erlaubt. Wenn wir es hier nicht mit der Realität, sondern mit einer Fiktion zu tun hätten, dann wären Sie als Leser der Hauptverantwortliche.«

»Reden Sie keinen Unsinn!«

»Das ist kein Unsinn. Aus allem, was Sie mir bisher erzählt haben, leite ich ab, daß auch Sie mit den Tatsachen und mit Ihren persönlichen Literaturkenntnissen spielerisch umgegangen sind und eine Theorie aufgestellt haben, aus der Sie schließlich die falschen Schlüsse zogen. Aber die Tatsachen sind etwas Objektives. Sie können ihnen nicht die Schuld für Ihre eigenen Fehler geben. Der Vin d’Anjou und dieses mysteriöse Buch, die Neun Pforten, haben nichts miteinander zu tun.«

»Aber Sie haben mir vorgemacht .«

»Wir - und damit meine ich Liana Taillefer, Laszlo Nicolavic und mich selbst - haben Ihnen überhaupt nichts vorgemacht. Sie waren derjenige, der auf eigene Faust die Lücken gefüllt hat, als handle es sich hier um einen Detektivroman voller Finten, die der schlaue Lucas Corso entlarvt . Keiner hat Ihnen auch nur andeutungsweise bestätigt, daß die Dinge wirklich so gelaufen sind, wie Sie glaubten. Deshalb liegt die Verantwortung ganz allein bei Ihnen, mein Freund. Schuld ist nur Ihr übertriebener Hang zur Intertextualität, also dazu, aufgrund Ihrer persönlichen literarischen Vorbildung Querverbindungen herzustellen.«

»Was blieb mir denn anderes übrig? Hätte ich Däumchen drehen und abwarten sollen? Nein. Aber wenn ich vom Fleck kommen wollte, brauchte ich eine Strategie. Und wer sich eine Strategie zurechtlegt, kommt nicht umhin, sich ein Bild von seinem Gegner zu machen, ein Feindbild zu konstruieren, das sein Vorgehen bestimmt. Wellington macht das, weil er glaubt, daß Napoleon glaubt, er mache das. Und Napoleon .«

»Napoleon hat auch Fehler begangen, zum Beispiel den, Blücher mit Grouchy zu verwechseln. Eine Strategie birgt immer gewisse Risiken - im Krieg wie in der Literatur . Hören Sie, Corso: Es gibt keine unschuldigen Leser. Wir alle

übertragen unsere persönlichen Perversitäten auf die Texte, die wir lesen. Ein Leser ist die Summe dessen, was er vorher gelesen und im Fernsehen und Kino gesehen hat. Zu den Anhaltspunkten, die der Autor gibt, wird der Leser immer noch seine eigenen hinzufügen. Und genau hier lauert die Gefahr: Das Übermaß an Literaturkenntnissen könnte auch Sie dazu verleitet haben, sich ein falsches oder irreales Bild von Ihrem Gegner zu machen.«

»Die Informationen, die ich hatte, waren falsch.«

»Nein, Corso. Das Wissen, das Bücher vermitteln, ist für gewöhnlich objektiv. Möglich, daß es von einem boshaften Autor auf eine Art und Weise aufbereitet wird, die den Leser irreführt, aber falsch ist es nie. Falsch ist Ihre Interpretation.«

Corso schien angestrengt nachzudenken. Er war ein wenig umhergegangen und stützte jetzt die Ellbogen auf das Steingeländer der Terrasse, das Gesicht dem dunklen Garten zugewandt.

»Dann muß es einen anderen Autor geben«, sagte er leise und mit zusammengebissenen Zähnen.

Er starrte reglos vor sich hin. Nach einer Weile sah ich, wie er die Mappe mit dem Vin d’Anjou unter seinem Mantel hervorzog und neben sich auf die moosbedeckte Balustrade legte.

»Diese Geschichte hat zwei Autoren«, sagte er hartnäckig.

»Schon möglich«, erwiderte ich, während ich das DumasManuskript an mich nahm. »Und vielleicht ist einer von ihnen boshafter als der andere . Mein Metier sind jedenfalls die Unterhaltungsromane. Krimis fallen nicht in mein Ressort.«

XVI. Ein Hauch von Horror

»Das ist das Ärgerliche an der Sache«, sagte Porthos.

»Früher brauchte man nichts zu erklären. Man hat sich duelliert und damit basta.«

A. Dumas, Der Graf von Bragelonne

Den Kopf an die Nackenstütze des Fahrersitzes gelehnt, sah Lucas Corso auf die Landschaft hinaus. Der Wagen war in einer kleinen Haltebucht der Straße geparkt, die an dieser Stelle eine letzte Kurve beschrieb, bevor sie zur Stadt hin abfiel. Wie eine bläuliche Geisterinsel schwebte der alte, mauerumgürtete Ortskern über dem Dunst des Flusses. Es war eine Welt, in der weder Licht noch Schatten vorherrschten, eine jener kalten kastilischen Morgendämmerungen, in der sich die Dächer, Kamine und Kirchtürme nur zögernd gen Osten hin abzuzeichnen beginnen.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, aber bei dem Gewitterregen in Meung war Wasser in sie eingedrungen, und das Zifferblatt war so beschlagen, daß er nichts erkennen konnte. Im Rückspiegel begegnete Corso seinen eigenen, müden Augen. Meung-sur-Loire, der erste Montag im April, mittlerweile war es Dienstag, und sie hatten das Städtchen weit hinter sich zurückgelassen. Es war eine lange Rückfahrt gewesen, so lange, daß er den Eindruck hatte, alle hinter sich gelassen zu haben: Balkan, den Club Dumas, Rochefort, Milady, La Ponte. Schatten einer Geschichte, die verblaßt, sobald man das Buch zuschlägt, oder wenn der Autor auf seiner Schreibmaschine - unterste Reihe, dritte Taste von rechts - den Schlußpunkt setzt, um die Geschichte mit diesem Willkürakt in das zurückzuverwandeln, woraus sie eigentlich besteht: simple Blätter mit Buchstabenreihen gefüllt - totes, fremd anmutendes Papier. Gestalten, die in die Anonymität zurückkehren.

In dieser Morgendämmerung, die so sehr dem Aufwachen aus einem Traum glich, blieb dem Bücherjäger - gerötete Augen, schmutzig und mit Dreitagebart - nur seine alte Segeltuchtasche mit dem letzten Exemplar der Neun Pforten. Und das Mädchen. Das war alles, was die Ebbe am Strand zurückgelassen hatte. Er hörte, wie sie leise neben ihm stöhnte, und wandte den Kopf, um sie anzusehen. Sie schlief auf dem Beifahrersitz, den Kopf an seine rechte Schulter gelehnt und mit ihrem Kapuzenmantel zugedeckt. Sie atmete ruhig durch den halb geöffneten Mund. Manchmal zuckte sie im Traum ein wenig zusammen, und dann stöhnte sie wieder, kaum vernehmbar, während sich zwischen ihren Augenbrauen eine kleine senkrechte Falte bildete, die ihr das Aussehen eines erzürnten Kindes gab. Eine Hand lag auf dem blauen Stoff und war halb geöffnet, als sei ihr soeben etwas entglitten, oder als wolle sie nach etwas fassen.

Corso dachte wieder an Meung und an die Reise. An Boris Balkan, wie er vorletzte Nacht neben ihm auf der regennassen Terrasse gestanden hatte. Mit dem Manuskript des Vin d’Anjou in Händen, hatte Richelieu gelächelt, bewundernd und mitleidig zugleich, wie ein guter, alter Feind: >Sie sind ein ungewöhnlicher Mensch, Corso ...< Ein letzter Satz als Trost oder als Verabschiedung - die einzigen ehrlich gemeinten Worte, denn der Vorschlag, sich doch den Gästen anzuschließen, war in wenig überzeugendem Ton geäußert. Nicht, weil Balkan seine Gesellschaft unangenehm gewesen wäre - er zeigte sich im Gegenteil betrübt, als sie auseinandergingen -, sondern weil er bereits voraussah, daß Corso ablehnen würde. Der Bücherjäger hatte sich lange nicht vom Fleck gerührt: Die Ellbogen auf das Steingeländer gestützt, war er allein auf der Terrasse zurückgeblieben und hatte über seine Niederlage nachgegrü-belt. Allmählich war er wieder zu sich gekommen, hatte sich umgesehen, wie um sich neu zu orientieren, und war dann durch die dunklen Gassen von Meung langsam zum Hotel zurückgeschlendert. Rochefort hatte er nicht wieder getroffen, und im Gasthof »Saint-Jacques« erfuhr er, daß auch Milady inzwischen verschwunden war. Beide waren aus seinem Leben in die nebulösen Sphären zurückgekehrt, die sie hervorgebracht hatten: fiktive Gestalten, schuldlos wie Schachfiguren. Flavio La Ponte und das Mädchen dagegen fand er mühelos wieder. Um La Ponte hatte er sich nicht die geringsten Sorgen gemacht, aber was das Mädchen betraf, so war er doch sehr froh, daß sie noch da war. Er hatte erwartet - gefürchtet -, sie zusammen mit den anderen Personen der Geschichte zu verlieren. Bevor auch sie sich im Staub der Bibliothek der Burg von Meung auflösen konnte, packte er sie rasch an der Hand, schleppte sie zum Auto und fuhr los. Zur großen Bestürzung La Pontes, der im Rückspiegel zurückblieb. Völlig verdattert, ohne Fragen zu stellen - ein in Mißkredit geratener, überflüssiger Harpunier, auf den kein Verlaß war und den man mit einer Dreitagesration Zwieback und Wasser aussetzte: Und jetzt versuchen Sie nach Batavia zu kommen, Mister Bligh. Trotzdem bremste Corso den Wagen am Ende der Straße ab, legte die Hände aufs Lenkrad und starrte reglos auf den Asphalt vor den Scheinwerfern, während das Mädchen ihn von der Seite aus fragend ansah. Eigentlich war La Ponte ja auch keine reale Figur. Er legte also mit einem Seufzer den Rückwärtsgang ein, fuhr zurück und ließ den Buchhändler einsteigen, der während des ganzen Tages und der folgenden Nacht den Mund nicht aufmachen sollte, bis sie ihn in Madrid an einer Ampel absetzten. Ja, er protestierte nicht einmal, als Corso ihm mitteilte, das Dumas-Manuskript könne er vergessen. Viel gab es da auch nicht zu sagen.