Durch sie konnte er Nikon jetzt, im nachhinein, gut verstehen, ihre Hirngespinste, die verzweifelte Gier, mit der sie sich ans Leben klammerte. Ihre Angst, ihre Schwarzweißfotos, ihr vergebliches Bemühen, die ererbten Erinnerungen an Auschwitz zu bannen, die Nummer, die sie ihrem Vater in die Haut tätowiert hatten, die Schwarze Ordnung, die alt ist wie der Geist des Menschen und der Fluch, der auf ihm lastet. Denn Gott und der Teufel konnten dasselbe sein - es war alles nur eine Frage des Blickwinkels.
Trotzdem blieb Corso grausam, genau wie er es mit Nikon gewesen war. Die Last war zu schwer für seine schwachen Schultern, und die Großherzigkeit eines Porthos besaß er nicht.
»Das war also deine Mission?« fragte er das Mädchen. »Über die Neun Pforten zu wachen? Dann glaube ich aber kaum, daß du einen Orden dafür bekommst.«
»Du bist ungerecht, Corso.«
Beinahe dieselben Worte. Das war wieder Nikon, hilflos den Stürmen des Lebens ausgeliefert, klein und zerbrechlich. An wen würde sie sich jetzt wohl in der Nacht klammern, um ihren Alpträumen zu entrinnen?
Er betrachtete das junge Mädchen. Vielleicht war die Erinnerung an Nikon sein persönlicher Fluch, aber er war nicht bereit, sich widerspruchslos damit abzufinden. Im Rückspiegel stand sein verkrampfter Mund.
»Ungerecht? Wir haben zwei der drei Bücher verloren. Und dann diese unsinnigen Todesfälle: Fargas und die Baronin Ungern. Du hättest sie verhindern können«, sagte er in vorwurfsvollem Ton, obwohl ihm die beiden im Grunde egal waren.
Sie schüttelte ernst den Kopf und wich seinem Blick keine Sekunde lang aus.
»Es gibt Dinge, die sich nicht vermeiden lassen, Corso. Es gibt Schlösser, die brennen, und Menschen, die hängen müssen, Hunde, die dazu prädestiniert sind, sich gegenseitig zu zerfleischen, Tugenden, die geköpft werden müssen, und Tore, die man aufmachen muß, damit andere sie passieren können ...« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Meine Mission - wie du es nennst - war, dafür zu sorgen, daß du deinen Weg sicher gehst.«
»Das war aber ein langer Weg, um letztendlich wieder am Ausgangspunkt anzukommen.« Corso deutete auf die dunstige Stadt. »Und jetzt muß ich da rein.«
»Du mußt nicht. Keiner zwingt dich dazu. Du kannst die ganze Geschichte vergessen und abhauen.«
»Ohne die Antwort zu kennen?«
»Ohne dich der Probe zu unterziehen. Die Antwort trägst du in dir selbst.«
»Was für eine schöne Phrase. Laß sie in meinen Grabstein meißeln, wenn ich in der Hölle brate.«
Das Mädchen klopfte ihm aufs Knie - nicht aggressiv, eher freundschaftlich.
»Sei kein Idiot, Corso. Viel öfter, als man glaubt, sind die Dinge genau das, was man sich eigentlich wünscht. Sogar der Teufel kann verschiedene Gestalten annehmen. Oder Erscheinungsformen.«
»Gewissensbisse, zum Beispiel.«
»Ja. Aber auch das Wissen und die Schönheit«, sie sah besorgt auf die Stadt hinunter, »oder die Macht und den Reichtum.«
»Das Endergebnis ist jedenfalls immer dasselbe: Verdammnis.« Er unterzeichnete wieder in der Luft einen imaginären Vertrag. »Man bezahlt mit der Unschuld seiner Seele.«
Das Mädchen seufzte erneut.
»Du hast vor langem bezahlt, Corso. Und du bezahlst immer noch. Schon seltsam, diese Angewohnheit, immer alles am Ende abrechnen zu wollen, als gehe es um den letzten Akt in einer Tragödie . Jeder Mensch schleppt von Anfang an seinen Fluch mit sich herum. Und was den Teufel betrifft, so ist er nur der Zorn Gottes, die Wut eines Diktators, der in seiner eigenen Falle gefangen ist. Geschichte aus der Sicht der Sieger.«
»Wann ist es passiert?«
»Vor unendlich langer Zeit. Und es war sehr hart. Ich habe hundert Tage und hundert Nächte gekämpft ohne Rast und ohne Hoffnung.« Um ihre Mundwinkel spielte ein sanftes, kaum wahrnehmbares Lächeln. »Das ist mein einziger Stolz, Corso, bis zum bitteren Ende durchgehalten zu haben. Ich bin zurückgewichen, ohne mich je abzuwenden - unter vielen anderen, die ebenfalls vom Himmel gefallen sind. Heiser davon, meinen Mut, meine Angst, meine Erschöpfung hinauszuschreien . Endlich fand ich mich nach der Schlacht in wüstem Ödland wieder - ausgestorben und kalt, wie es die Ewigkeit ist . Manchmal stoße ich heute noch auf Spuren dieses Kampfes oder auf alte Kameraden, die mit gesenktem Blick an mir vorübergehen.«
»Warum ausgerechnet ich? Warum hast du dir nicht einen aus dem anderen Lager ausgesucht, einen von den Siegern? Ich gewinne nur Schlachten im Maßstab 1:5000.«
Das Mädchen wandte sich von ihm ab und ließ den Blick in die Ferne schweifen. In diesem Moment tauchte die Sonne am Horizont auf, und ihr erster Strahl zerschnitt den Morgennebel wie eine rötlich blitzende Klinge.
Als Corso zu ihr hinsah, wurde ihm schwindelig von dem gleißenden Licht, das die grünen Augen reflektierten.
»Weil die Intelligenz niemals siegt. Und einen Trottel zu verführen, lohnt die Mühe nicht.«
Sie küßte ihn - sehr langsam und unendlich zärtlich. Als habe sie eine ganze Ewigkeit auf diesen Moment gewartet.
Allmählich begann der Nebel sich aufzulösen, und die in der Luft schwebende Stadt schien endlich auf dem Boden aufzusetzen. Nun zeichnete sich bereits - grau und ockerfarben - der Alcazar in der Morgendämmerung ab, der Turm der Kathedrale, die Steinbrücke mit ihren Pfeilern im dunklen Wasser des Flusses. Wie eine seltsam gespreizte Hand spannte sie sich von einem Ufer zum anderen.
Corso drehte den Zündschlüssel, fuhr an und ließ das Auto im Leerlauf die verlassene Straße hinunterrollen. Je tiefer sie kamen, desto mehr zog sich die aufgehende Sonne von ihnen zurück, als werde sie oben auf dem Hügel festgehalten. Die Stadt rückte immer näher, während sie langsam in die Welt der kalten Farbtöne und der immensen Einsamkeit eintauchten, die sich zwischen den letzten Resten des bläulichen Dunstes hielt.
Unter dem Steinbogen am Beginn der Brücke bremste Corso ab und zögerte einen Augenblick: Seine Hände lagen auf dem Lenkrad, der Kopf war zur Seite geneigt, der Unterkiefer nachdenklich nach vorn geschoben - das gespannte, wachsame Profil eines Jägers. Er nahm seine Brille ab und putzte sie, ohne Hast, die Augen starr auf die Brücke gerichtet, die -selbst verschwommen - etwas Abweisendes an sich hatte. Das Mädchen beobachtete ihn von der Seite, aber Corso wagte es nicht, den Kopf zu drehen. Er setzte seine Brille wieder auf und rückte sie mit dem Zeigefinger auf der Nase zurecht, aber die Landschaft machte ihm auch mit scharfen Umrissen keinen sehr vertrauenserweckenden Eindruck. Von hier aus schien das andere Ufer düster und weit entfernt. Der dunkle Fluß unter den Pfeilern erinnerte ihn an die schwarzen Wasser der Lethe. Corso hatte das deutliche Gefühl, als lauere in den letzten Schatten der Nacht eine akute Gefahr. Er spürte seinen Pulsschlag, als er die rechte Hand auf den Schaltknüppel legte.
Noch hast du Zeit umzudrehen, sagte er sich. Dann wird nichts von dem, was geschehen ist, jemals geschehen sein, und nichts von dem, was passieren wird, jemals passieren. Und der praktische Nutzen des von Gott oder dem Teufel geprägten Nunc scio, Jetzt weiß ich, war noch lange nicht erwiesen. Was hatten diese Überlegungen für einen Sinn? Im Grunde wußte er genau, daß er sich in zwei Minuten auf der anderen Seite der Brücke und des Flusses befinden würde. Verbum dimissum custodiat arcanum. Corso starrte noch einmal zum Himmel hinauf, um nach einem Bogenschützen mit oder ohne Pfeil im Köcher Ausschau zu halten, dann legte er den ersten Gang ein und trat sachte aufs Gaspedal.